Seraphim
vor dem sie standen, hatte ein hölzernes Vordach, das weit über die Gasse hinausragte und einen wohltuenden Schatten auf die bereits zu dieser frühen Stunde von der Sonne erhitzten Pflastersteine warf. In diesem Schatten hatte sich der Irre zusammengekauert, als könne er sich dadurch unsichtbar machen.
Katharina richtete den Blick auf ihn. Sein Hemd entblößte eine schiefe, knochige Schulter, und sie sah, dass er sich einmal das Schlüsselbein gebrochen hatte.
Sie hatte das Bedürfnis, draufloszuplappern, den Bütteln wortreich zu versichern, dass nichts gewesen war, dass der Bettler sie überhaupt nicht belästigt habe. Sie beherrschte sich. Einige Lidschläge lang betrachtete sie das Häufchen aus Elend, Lumpen und Dreck, als müsse sie über die Frage des Büttels nachdenken. Dabei rückte sie ihre Schaube zurecht, so dass ihr Gegenüber nicht anders konnte, als den Pelzbesatz an ihrem Kragen zu bemerken. Nur reiche Bürger trugen auch im Sommer Pelz. Sie war eine ehrbare Nürnberger Frau. Sie musste es nur selbst glauben, dann würde man es ihr auch abnehmen!
»Der arme Irre?« Sie lachte leise, froh darüber, dass sie ihre Stimme jetzt wieder unter Kontrolle hatte. »Er kann mich gar nicht belästigen. So einen wie den übersehe ich einfach.« Sie lauschte ihren eigenen Worten nach und fühlte den Schmerz, den sie tief in ihrem Inneren verursachten.
Wie sie es hasste, sich immerzu verstellen zu müssen!
Der Büttel mit den schiefen Zähnen wandte den Kopf und musterte den Bettler. Katharina ballte die Hände zu Fäusten und lächelteweiter. Endlich nickte der Mann. »Dann ist es ja gut.« Er tippte sich grüßend an die Stirn, gab seinem Begleiter einen knappen Befehl und stiefelte schließlich davon.
Katharina schloss erleichtert die Augen, riss sie aber sofort wieder auf, als hinter ihr schon wieder eine Stimme ertönte. »Ihr hättet den Kerl festnehmen lassen sollen!«
Es war eine der beiden Marktfrauen, jene mit dem Eierkorb, ein kräftiges Weib mit von der Sonne dunkelbraun gebranntem Gesicht, in dem eine breite Nase und ein dünnlippiger, missgünstiger Mund saßen.
Bevor Katharina sich darüber klar wurde, was sie tat, wich sie einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. Sie schluckte. Hatte sie sich jetzt verraten?
Zu ihrer Erleichterung jedoch missverstand die Marktfrau ihre Geste. Ein verständnisvolles Glitzern trat in ihre Augen. »Er hat Euch ganz schön erschreckt, nicht wahr? Ihr seid viel zu gutmütig gewesen, das ist Euch klar oder?«
Katharina wusste, dass es das Beste war, ihre Maske der hochmütigen Patrizierin aufrechtzuerhalten. »Die einzige, die mich wirklich erschreckt hat, das seid Ihr«, zischte sie die Frau an. Schlagartig wichen aus deren Blick alles Verständnis und alle Freundlichkeit.
»Ich mein’ ja nur!«, murmelte sie und kehrte zu ihrer Nachbarin zurück. Über die noch fast vollen Körbe hinweg steckten die beiden Frauen erneut die Köpfe zusammen. Diesmal hatten ihre giftigen Blicke Katharina zum Ziel.
Sie wehrte sich gegen das Gefühl der Verzweiflung, das sie zu überkommen drohte, zog den Kragen ihrer Schaube fester um den Hals und machte, dass sie davonkam.
Überall in der Stadt waren noch Spuren des soeben beendeten Reichstags zu sehen, den König Maximilian in Vertretung seines kranken Vaters geleitet und der mehr als fünf Monate gedauert hatte.
Katharina ließ den Weißen Turm hinter sich, durchquerte eine schmale Gasse, deren Häuser allesamt mit dem Rücken an die alte Stadtbefestigung gebaut worden waren, die man nach dem Bau derneuen Stadtmauer aufgegeben hatte. Vorbei an dem stattlichen Eckhaus des Roten Ochsen, dessen sechs Stockwerke im Licht der Morgensonne glänzten. An seinem Dachfirst war eine Handvoll Handwerker damit beschäftigt, neue Reiter aufzusetzen, die das Gebäude noch imposanter erscheinen lassen sollten, als es ohnehin schon wirkte. Katharina schenkte den in schwindelnder Höhe arbeitenden Männern nur einen kurzen Blick. Wie gewöhnlich hielt sie kurz an einem Apfelbaum ganz in der Nähe an, um die Hand an seine Rinde zu legen. Der Baum stand wie ein einsamer Wächter mitten auf einem kleinen Platz und erinnerte daran, dass noch vor gar nicht allzu langer Zeit an dieser Stelle Gärten und Wiesen gewesen waren. Warum er bei der Erweiterung der Stadtgrenzen nicht wie seine Kameraden gefällt worden war, wusste niemand mehr, aber an Tagen wie diesem war er ein willkommener Ruheplatz für die alten Leute des
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