Seraphim
Frauen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Gefangenen im Loch zu besuchen, um mit ihnen zu reden und zu beten und ihnen in ihren schweren Stunden beizustehen. Zwar gab es einen Priester, der das Gefängnis regelmäßig aufsuchte, aber er war dafür bekannt, dass er den Menschen darin mit blumigen Worten von der Hölle predigte. Aus diesem Grund hatten sich die Frauen, allesamt Angehörige des Stadtadels, zusammengetan, um wenigstens ein bisschen Trost in das Loch zu bringen. Sie glaubten, auf diese Weise etwas für ihr Seelenheil tun zu können. Auf den Nürnberger Straßen wurden sie nur »die Lochengel« genannt.
»Ihr würdet diese Arbeit nie aufgeben, auch wenn sie Euch stets aufs Neue niederzwingt«, sagte Katharina leise. Sie hatte es langehingenommen. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, konnte sie Bettine verstehen. Manchmal tat es gut, einfach nur den Grund für die eigene Traurigkeit zu wissen ... »Stattdessen lasst Ihr lieber mich rufen, wenn es Euch schlecht geht. Die Arbeit als Lochengel verstärkt nur die melancholia , unter der Ihr ohnehin zu leiden habt!«
Bettine nickte nur. »Ich weiß.« Sie senkte die Lider, die Tränen quollen zwischen ihren Wimpern hervor und rannen ihr über das Gesicht. Dann schaute sie Katharina an. »Mein Mann behauptet, dass ich eigentlich gesund bin.«
Katharina umfasste die faltige Hand fester. Nur unter Aufbietung aller Konzentration konnte sie sich gegen die Erinnerungen wehren, die diese Worte mit sich brachten.
Stell dich nicht so an! Du bist kerngesund!
»Ihr seid nicht gesund!«, widersprach sie mit aller Autorität, die sie aufbringen konnte.
»Die Ärzte, die er eingestellt hat ... sie haben mich ausgelacht, als ich ihnen erzählte, dass ich diese Finsternis in meinem Kopf spüre.«
Katharina unterdrückte ein Seufzen, das aus den Tiefen ihrer Seele aufsteigen wollte. »Sie halten das Gehirn für ein untergeordnetes Organ«, erläuterte sie. »Ihrer Meinung nach ist es nur dazu da, das Blut zu kühlen, und der Sitz Eurer Gedanken und Gefühle befindet sich hier.« Sie tippte sich gegen die Stelle, hinter der ihr Herz saß.
»Du hingegen hast es mir anders erklärt«, meinte Bettine.
»Ihr selbst sagt es doch auch! Wenn Ihr in Euch hineinlauscht, dann spürt Ihr die Leere in Eurem Kopf.« Ebenso wie ich , dachte sie.
»Manchmal auch hier.« Wieder legte Bettine ihre Hand auf den Busen. »Aber meistens im Kopf, da hast du recht.«
Katharina lächelte, aber es fiel ihr schwer.
Bettine stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du bist so jung, so lebendig. Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle!«
Katharina wischte das Lächeln von ihren Lippen. Nicht widersprechen , mahnte sie sich. »Niemand hat das«, sagte sie leise.
»Die ganzen Quacksalber schon gar nicht!« Überraschend kräftig schnaubte Bettine. »Dieser Meister Erhard, den Peter gestern hat kommen lassen, weißt du, was er getan hat?«
Katharinas Blick fiel auf den Verband um Bettines Handgelenk. »Er hat Euch zur Ader gelassen.«
»Genau! Sagt, ich hätte zu viel schwarze Galle in mir, die man loswerden müsste.«
»Das ist die vorherrschende Meinung, wie sie Hippokrates und Galen formuliert haben. Die Elemente finden sich im Körper jedes Menschen als vier Körpersäfte wieder. Sind diese im Gleichgewicht, ist der Mensch gesund. Ihr jedoch habt ein Übermaß an schwarzer Galle in Euch, und das macht Euch schwermütig.« Katharina überlegte kurz, ob sie Bettine erklären sollte, dass die Gelehrten ein Übermaß an schwarzer Galle nicht nur für den Verursacher der melancholia ansahen, sondern dass sie auch glaubten, zu viel von ihr führe zu Lepra. Sie entschied sich dagegen. Stattdessen sagte sie: »Schwarze Galle gilt als trocken und kalt.« Und fragte sich, was dieses Wissen Bettine nutzen sollte.
Ihr selbst half es schließlich auch nicht.
Bettine wedelte ungeduldig mit den Händen. »Mag ja alles sein! Aber das erklärt noch nicht, warum Erhard glaubt, mir mein Blut abzapfen zu müssen! Sagen sie nicht, das Blut sei warm und feucht?«
Katharina nickte. Mit Bettine über Medizin zu reden ließ die Handwerkersfrau ihre Mattigkeit für eine Weile vergessen, und das war gut so. »Stimmt.«
»Ich bin ja nur eine dumme Frau, aber mir will einfach nicht in den Schädel, warum ein Körper, der zu trocken und kalt sein soll und deshalb krank ist, dadurch gesund wird, wenn man ihm etwas Feuchtes und Warmes abzapft. Wenn mir im Winter die Milch zu kalt ist, dann gießt Edith mir
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