Seraphim
Katharinas Angst langsam zurückkehren, und die Tatsache, dass auch Zeuner jetzt zunehmend befremdet aussah, verstärkte diese noch.
»Wenden wir uns doch noch einmal dieser melancholia zu. Was ist das für eine Krankheit, deiner Meinung nach?«
»Ich kann Euch nur sagen, was andere darüber geschrieben haben«, meinte Katharina.
»Gut. Wer zum Beispiel?«
»Eine heilige Frau. Ihr Name ist Hildegard. In einem ihrer Bücher, die von der Kirche als weise und richtig anerkannt sind, schreibt sie: Bevor Adam das göttliche Gebot übertreten hatte, leuchtete das, was jetzt als Galle im Organismus existiert, in ihm wie ein Kristall. Es hatte den Geschmack aller guten Werke in seinem Wesen. Und auch das, was jetzt im Menschen als Schwarzgalle ist, leuchtete in ihm wie die Morgenröte und hatte in sich das Wissen und die Vollkommenheit aller guten Werke. Seine Augen, die vorher die himmlische Herrlichkeit geschaut hatten, erloschen. Seine Galle wurde in Bitterkeit umgewandelt und die Schwarzgalle in die Finsternis der Gottlosigkeit . So wurde der Mensch ganz und gar in eine andere Existenzweise umgewandelt. Da befiel ihn eine große Traurigkeit. «
»So. Das schreibt also diese Hildegard. Soweit ich mich mit der Medizin auskenne, stützt sich diese Disziplin auf die Schriften zweier großer Männer, so wie Rom sich auf die Kirchenväter stützt, stimmt das?« Fragend schaute der Prior Katharina an.
»Ihr meint Galen und Hippokrates.«
»Genau.«
In Katharina entstand der Eindruck, einer Prüfung unterzogen zu werden. Sie presste ihren Rücken heftiger gegen die Wand.
»Aber du stützt dich lieber auf das, was diese ... Frau geschrieben hat, diese Hildegard, und lässt die Schriften der Autoritäten beiseite.«
Worte drängten Katharina auf die Zunge, Verteidigungen und auch Anklagen, aber sie biss sich lieber auf die Innenseite der Wange, als sie auszusprechen.
»Hat es dir die Sprache verschlagen, Tochter?«, fragte Prior Claudius mitfühlend. »Bin ich der Wahrheit zu nahe gekommen. Bist du eine Frau, die die Autoritäten in Frage stellt?«
»Natürlich nicht! Aber ich kann sehen, dass das, was Hildegard schreibt, der Wahrheit entspricht.«
»Ach wirklich? Beherrschst du die Kunst des Gedankenlesens?«
»Nein!« Katharina fuhr auf, denn sie wusste nur zu genau, dass diese Kunst mit dem Teufel in Verbindung gebracht wurde.
»Sondern?«
»Ich ... ich weiß es einfach.« Sie sank zurück auf ihre Bank.
Der Prior sah skeptisch aus, sagte jedoch nichts, sondern wanderte weiter umher.
»Ich weiß es, weil ich es am eigenen Leib erfahre, wie die melancholia sich äußert«, flüsterte Katharina schließlich.
Sinnend legte Claudius die Hand ans Kinn, sprach jedoch noch immer nicht. Katharina wurde immer unruhiger.
»Dir ist klar, Frau, dass du dich hier um Kopf und Kragen redest, oder?«, fragte er schließlich. Auf einmal wirkte seine Miene weicher und fast mitleidvoll.
Katharina wurde kalt.
Sebald stand regungslos in seiner Ecke, die Arme um den Oberkörper geschlungen, das Gesicht blass. Auf Bürgermeister Zeuners Stirn prangte jetzt eine steile Falte. »Wie meint Ihr das?«, fragte nun er an Katharinas Stelle.
Prior Claudius ging darüber hinweg. »Du selbst«, sagte er zu Katharina, »hast gesagt, dass diese Hildegard die melancholia für eine Strafe für die Sünde der Gottlosigkeit hält. Und du hast zugegeben, selbst unter dieser melancholia zu leiden. Also stimmt es, dass du von Kopf bis Fuß sündig bist?«
Die Worte des Priesters in St. Sebald, bei dem sie die Beichte abgelegt hatte, fielen Katharina ein, und übergangslos war die melancholia da. Die Flamme der Tranlampe verlor ihre Farbe, die Gewänder Sebalds ebenso. Katharina senkte den Kopf.
»Du spürst es!«, triumphierte der Mönch. »Nicht wahr?«
»Ich glaube, das reicht jetzt!«, mischte sich Bürgermeister Zeuner endlich ein.
Überrascht fuhr Claudius zu ihm herum. »Was soll das heißen?«
»Das heißt«, Zeuner packte den Prior am Arm und drängte ihn in Richtung Tür, »dass ich Euch gewährt habe, worum Ihr mich batet. Ihr habt die Frau verhört und konntet Euch ein Bild machen, ob die Vorwürfe gegen sie stimmen oder nicht. Jetzt muss ich Euch bitten zu gehen.«
Überraschend schnell gab der Prior nach. Er nickte Katharina zu und verließ dann gemeinsam mit Zeuner die Zelle.
Katharina sank vornüber und hielt den Kopf zwischen die Knie, um der Übelkeit Herr zu werden, die auf einmal in ihren Eingeweiden wühlte. Sie konnte
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