Serenade für Nadja
kühl.«
21
Obwohl es sich im Grunde um ein Feriendorf handelte, herrschte in der Militäranlage Bodrum das gleiche Ausmaß an Ordnung, Sauberkeit und Disziplin, wie ich es schon in der Kaserne in Istanbul beobachtet hatte. Wir saßen gemeinsam in dem Restaurant direkt am Meeresufer: meine Eltern, mein Bruder Necdet, meine Schwägerin Oya und ich. Necdet hatte dort übers Wochenende eine Sitzung.
»Da habe ich zu Oya gesagt, komm doch einfach mit«, sagte er lächelnd. »Bei dem schönen Wetter.«
»So ist es aber nicht immer«, warf mein Vater ein. »Obwohl, dieses Jahr haben wir so gut wie keinen Winter gehabt, es war mehr so ein Dauerfrühling.«
Die weißgekleideten Ober servierten Meeresfrüchte. Auf einem kunstvoll mit Mayonnaise verzierten Salatblatt waren Garnelen so perfekt angeordnet, dass man sich seinen Teller kaum anzurühren traute.
Wir blickten beim Essen auf das glitzernde Meer und die mächtige Kreuzritterburg und hielten uns an die üblichen Themen wie Kinder, Schule und Wetter. Politik wurde sorgsam ausgeklammert. Als wir nach dem Essen unseren schäumenden Mokka getrunken hatten, sagte mein Bruder zu mir: »Gehen wir ein bisschen spazieren, wir zwei?«
»Klar«, sagte ich und stand auf.
Unsere geschwisterlichen Beziehungen hatten viele Phasen durchlaufen. Wegen des großen Altersunterschieds hatte ich als Kind meinen Bruder eher als Vaterfigur wahrgenommen. Er war noch dazu körperlich sehr kräftig und von ernstem Naturell, so dass wir nie wie andere Geschwister miteinander spielten, scherzten und stritten. Er verhielt sich wie ein Erwachsener, dermir bei den Hausaufgaben half und mir eher diskret zu verstehen gab, dass er mich mochte, während er von mir in erster Linie Achtung erwartete.
Als ich heranwuchs, wandelte sich unsere Beziehung. Ich diskutierte nun so richtig mit ihm und kritisierte an seiner Lebenseinstellung herum. Mir wurde bewusst, dass ich durch mein vieles Lesen seiner körperlichen Überlegenheit etwas entgegensetzen und ihm Paroli bieten konnte, was ihm überhaupt nicht passte. Die Spannungen, die sich daraus ergaben, führten schließlich zum Bruch zwischen uns beiden.
Wenn zwei Menschen sich lange nicht sehen, passiert es ihnen ohnehin leicht, dass ihnen die Gesprächsthemen und die gemeinsamen Interessen ausgehen, auch wenn sie Geschwister sind. So gingen wir an dem schmalen Strand nebeneinander her wie zwei Fremde.
»Wissen unsere Eltern Bescheid?«, fragte er.
»Worüber?«
»Über die Sache mit der Uni.«
»Ja.«
»Und was haben sie dazu gesagt?«
»Da sie mir vertrauen, haben sie gleich begriffen, dass das Ganze nur eine Verleumdung war.«
»Und sie sind dir überhaupt nicht böse?«
»Nein, warum sollten sie auch? Man ist ja nicht schuld daran, wenn man verleumdet wird.«
»Na schön. Und wissen sie auch, dass du entlassen worden bist?«
»Das noch nicht. Ich habe gesagt, dass ich mir Urlaub genommen habe, aber morgen erzähle ich ihnen alles.«
»Ach, Maya.«
»Was denn?«
»Ich hatte dich gewarnt und dir gesagt, du sollst dich aus all dem raushalten, weißt du noch?«
»Natürlich.«
»Aber du hast nicht auf mich gehört und hast weiter herumgebohrt. Oder denkst du etwa, das ist alles von allein gekommen, die Zeitungsmeldungen und deine Entlassung?«
»Wie meinst du das? Dass mir das alles nur passiert ist, weil ich hinter die Sache mit der Struma kommen wollte?«
»Ganz ohne Zweifel. Alles hat eine sichtbare und eine unsichtbare Seite. Kein Staat lässt es zu, dass man gegen ihn agitiert.«
»Das mit der Struma war die gemeinsame Schuld von England, Russland, der Türkei, Deutschland und Rumänien.«
»Das mag schon sein, aber keiner dieser Staaten nimmt es hin, dass du deine Wahrheit hinausposaunst.«
»Nur Deutschland hat seine Schuld zugegeben und sich entschuldigt. Deswegen ist alles an den Deutschen hängengeblieben. Dabei tragen andere Staaten eine Mitschuld.«
»Pass mal auf, Maya. Du bist und bleibst meine Schwester, und deshalb unternehme ich alles, um dich vor Schaden zu bewahren. Aber tu mir den Gefallen, und treib es nicht zu weit. Mit dem Staat legt man sich nicht an.«
»Den Staat als solchen gibt es gar nicht wirklich. Es gibt bloß ein paar Oberhirten, die sich für den Staat halten und über Leben und Tod von Menschen entscheiden.«
»Sei still, Maya. Das sind höchst gefährliche anarchistische Gedanken. Ohne die Autorität eines Staates können Gesellschaften nicht existieren. Hast du schon mal ein Land gesehen,
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