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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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Kleinwüchsigkeit bestimmt als Fluch an, doch ihren Angehörigen war dadurch das Leben gerettet worden. Als Normalwüchsige wären sie in der Gaskammer umgekommen.
    Auch Schwächen und Mängel konnten einem also irgendwann von Nutzen sein. Hatte nicht schon Nietzsche angeregt, Schwäche in Stärke zu verwandeln?
    Ich musste lachen. Mensch, Mädchen, denk daran, wer du bist: Auch wenn dir auf dem Weg nach Bodrum die Nazis, Nietzsche und Auschwitz einfallen, bist du doch nichts weiter als eine geschiedene Frau, die vor der türkischen Öffentlichkeit als Flittchen dagestanden hat. Aber selbst dieser Gedanke verdarb mir nicht die Laune. Ich fühlte in mir ein neues Leben, neuen Kampfeswillen. Aus der alten Maya ging eine neue hervor.
    Wir langten an dem Hügel an, vom dem es nach Bodrum hinunterging. Die von den Johannitern erbaute Kreuzritterburg erstrahlte im Meer wie ein Juwel. Der Mond stand groß am Himmel und ließ das Meer glitzern. Es lag ein Geruch von gegrilltem Fisch und Raki in der Luft.
    Meine Eltern lebten in einer bescheidenen Wohnanlage. Mein Vater hatte von seinem knappen Gehalt jahrelang Einlagen in eine Kooperative gezahlt, bis er endlich Besitzer einer Wohnung geworden war, die sich jedoch als reichlich dürftig herausstellte. Bei der Übergabe waren die Wände so feucht, dass man am Lichtschalter Stromschläge bekam, die Toiletten waren alle Augenblicke verstopft, in dem Schlafzimmer wimmelte es von Ameisen, Türen und Fenster schlossen nicht richtig, weil das Holz sich verzogen hatte, in den Türen waren Risse, und unter dem Küchenschrank kam Wasser hervor. Trat man jedoch auf den Balkon und hatte vor sich das Meer, waren die Unzulänglichkeiten alle vergessen.
    Mit der Zeit wurden die Rahmen und die Wasserhähne ausgetauscht, der Holzboden, aus dem immer wieder Nägel herausstanden, wurde durch Travertin-Fliesen ersetzt, der rauchende Kamin wurde repariert und eine Klimaanlage eingebaut, bis das Ganze schließlich recht gemütlich war.
    Den Sommer über waren alle Wohnungen belegt. Kinder tobten im Meer und im Sand direkt vor der Anlage, am Nachmittag kam man zu Tee und Simit zusammen, und abends wurden auf den Balkons gegessen und Raki getrunken. Den Winter dagegen verbrachten nicht mehr als fünf, sechs Familien in der Anlage, nämlich Rentner, so wie meine Eltern.
    Als das Taxi durch das Eingangstor fuhr, merkte ich, wie sehr ich mich nach dem Ort gesehnt hatte. Allerlei Kindheits- und Jugenderinnerungen kamen in mir hoch. In der Abendämmerung den Duft nach gerösteten Kürbiskernen in der Nase zu haben, war für mich das Symbol für Sommer schlechthin. Da waren jene zauberhaften Abende mit Gitarrespiel am Lagerfeuer gewesen, nächtliches Schwimmen im leuchtenden Meer, erste Flirts, betörende heimliche Küsse. Ach, wie schön das Leben damals war, und wie einfach die Welt.
    Als meine Mutter mich sah, tat sie den erwarteten Freudenschrei.
    »Maya! Mein Gott, das ist ja wunderbar!«
    Und schon fiel sie mir um den Hals. Bei uns zu Hause machte nie mein Vater die Tür auf, sondern grundsätzlich meine Mutter. Nun kam aber mein Vater herbeigeeilt.
    »Jetzt lass sie mir doch auch mal«, raunzte er.
    Er küsste mich auf die Wangen und drückte mich an sich. So empfangen zu werden, tat unheimlich gut.
    Wir saßen den ganzen Abend beisammen, aßen frisch gepflückte Mandarinen, und ich erzählte. Sowieso glaubten sie mir, und ich war ihnen furchtbar dankbar dafür, dass sie nicht irgendeine Erklärung von mir forderten oder jammerten, ich hätte ihnen Schande gemacht.
    In vielen türkischen Familien hätte sich ein solcher Vorfall zum Drama ausgewachsen, und die Eltern hätten alles ihrer Tochter angelastet, ohne groß zu fragen, wer tatsächlich die Schuld trug. Vor allem in der Osttürkei konnte es geschehen, dass der Familienrat ein Mädchen zum Tode verurteilte. In solch einer Familie hätte man mir einen Strick hingehalten oder mich vor einen Traktor geworfen und einen Selbstmord vorgetäuscht,oder man hätte mich irgendwo auf einem Feld erschossen und in einem Loch verscharrt. Man las sogar von Mädchen, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden.
    So ein widersprüchliches Land war die Türkei. Von modernstem Leben bis zum rückständigsten Feudalsystem gab es nichts, was es nicht gab. Mal New York, mal Kandahar, so kam ich mir vor.
    Am nächsten Morgen gab es ein großes Frühstück mit Orangen- und Mandarinenmarmelade und mit Käse und Oliven aus der Gegend. Dann stiegen wir in den alten Opel

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