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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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verrammelten Waggons, der Kızılçakçak-See, alles. Warum habt ihr mir nie was davon erzählt?«
    »Von wem weißt du das?«, fragte sie mich leise.
    »Von Necdet.«
    »Das hätte er dir nicht erzählen sollen.«
    »Und warum nicht?«
    »Weil es niemandem nützt, wenn man das immer wieder aufwühlt.«
    »Vielleicht hätten deine Eltern gewollt, dass ihre Enkel von der Geschichte erfahren.«
    »Nein, bestimmt nicht«, sagte sie, doch klang das eher verlegen.
    »Woher willst du das wissen?«
    »Wenn sie gewollt hätten, hätten sie schon was gesagt. Aber nicht mal uns haben sie was erzählt.«
    »Was, ihr habt nie darüber geredet?«
    »Doch, ein Mal. Da hat meine Mutter mich beseite genommen und mir alles gesagt. Sie wollte, dass ich die Namen ihrer Eltern aufschreibe, die erschossen worden sind, und die Namen ihrer Brüder, die sich in die Drau gestürzt haben.« Abwartend sah sie mich an, dann sprach sie weiter. »Ihr Vater hieß Seyit, ihre Mutter Ayşe und ihre Brüder Ömer und Kurban. Ich habe die Namen aufgeschrieben, denn sie selber konnte nicht schreiben und lesen. Dann hat sie gesagt: ›Das waren alles gute Menschen. Bete für die Seele der Toten, und gib armen Leuten ein Almosen.‹«
    »Es waren doch alles Türken und Muslime, oder?«
    »Ja.«
    »Warum hat die türkische Regierung sie dann in den Tod geschickt? Wie konnte so etwas Entsetzliches passieren?«
    »Das weiß ich auch nicht. Das wurde wohl irgendwie für richtig gehalten.«
    »War sie denn nicht empört darüber?«
    »Nein, sie hat sich in ihr Schicksal ergeben. Nur als ich die Namen aufschreiben sollte, da hat sie geweint und für jeden Einzelnen gebetet.«
    »Und dein Vater hat nie was erzählt?«
    »Nein, überhaupt nicht. Sowieso war er ein sehr schweigsamer Mensch. Er hat immer nur dagesessen und geraucht. Meine Mutter hat gesagt, er hat im Krieg so furchtbare Sachen gesehen, dass er im Schlaf immer wieder gestöhnt hat.«
    »Aber dass er in den See gesprungen ist und meine Großmutter gerettet hat, das war doch etwas Wunderbares.«
    »Und ob.« Seit Beginn unseres Gesprächs lächelte meine Mutter zum ersten Mal. »Zu was die Liebe uns doch bringen kann. Er hat meine Mutter so sehr geliebt, dass er sogar auf dem Sterbebett nur immer sie sehen wollte. Er hat ihre Hand genommen, ihr ins Gesicht geschaut, dann hat er drei Mal ihren Namen gesagt und war tot.«
    »Ihren Namen? Den echten?«
    »Ja, den echten.«
    »Nämlich?«
    »Kannst du dir das nicht denken?«
    »Nein.«
    »Du weißt aber doch, dass dein Name von deiner Großmutter ausgesucht wurde?«
    Ich zuckte zusammen.
    »Maya!«
    Meine Mutter nickte.
    »Sie wollte, dass ihr richtiger Name wenigstens durch dich weiterlebt.«
    Das war also der Name, der ein Leben lang nicht ausgesprochen und verheimlicht wurde: Maya. Schon als Kind hatte ich mich gefragt, warum ich diesen doch seltenen Namen trug. Nicht dass ich etwas dagegen gehabt hätte; Maya klang harmonisch, und gegen den Spitznamen Biene-Maya hatte ich auch nichts.
    Drei Frauen, und drei Namen.
    Maya war zu Ayşe geworden, Mari zu Semahat, und Nadja zu Katharina.
    Drei Frauen, die nicht einmal den Namen benutzen durften, den sie bei der Geburt bekommen hatten.
    Am schlimmsten hatte es Nadja getroffen. Maya und Mari hatten Kinder und Enkelkinder bekommen und ihre Geschichte schließlich weitererzählen können.
    Die arme Nadja dagegen war zusammen mit ihrer Geschichte in den dunklen Wassern des Schwarzen Meeres versunken. Ich aber würde diese Geschichte dort hervorholen und sie der ganzen Welt erzählen.
    Das war nun meine Aufgabe.
    Meine Mutter weinte ein bisschen, danach saßen wir stumm nebeneinander. Die Lichter auf der griechischen Insel Kos gegenüber zitterten, als blinzelten sie uns zu. Es war schwer zu begreifen, dass eine derart nahe Insel zu einem fremden Land gehörte und man ohne Pass nicht hinfahren durfte.
    Ach, diese Staaten, dachte ich, in einer anarchistischen Anwandlung,wie ich sie nun immer öfter hatte. Sie trennen die Menschen durch künstliche Grenzen und werden damit zur Quelle von Schmerz.
    Um uns beide aus unserer Schwermut herauszuholen, sagte ich zu meiner Mutter: »Kennst du die Geschichte vom Optimisten und vom Pessimisten?«
    »Nein.«
    »Während der Pessimist jammert: ›Schlimmer könnte es nicht kommen‹, sagt der Optimist: ›Und ob!‹ Also, bist du jetzt optimistisch oder pessimistisch?«
    »Ach, du immer mit deinen Spitzfindigkeiten. Du verrücktes Kind, komm, gehen wir rein, es wird

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