Serenade für Nadja
da sie zu einem offiziellen Essen geladen waren.
Mir kam das gerade recht. Ein zweites Zusammentreffen mit meinem Bruder am selben Tag wäre zu viel gewesen. Streit hatten wir schon oft gehabt, aber so unversöhnlich war es noch nie zugegangen. Ihm war es gewiss lieber, eine Schwester wie mich einfach zu vergessen.
Ich nahm mir vor, das Thema zu verdrängen, um mit meinen Eltern einen gemütlichen Abend zu verbringen.
Als wir in Gümüşlük ankamen, ging gerade die Sonne unter. In den Lokalen entlang des Meeresufers wurden die letzten Vorbereitungen getroffen, und Kellner versuchten, die ersten Gäste anzulocken. Vor den Restaurants waren Barsche, Brassen und die um diese Jahreszeit besonders leckeren Butte präsentiert. Da es auch in Bodrum abends kühl werden konnte, waren die Tische draußen durch Glaswände geschützt.
Wie üblich war der Sonnenuntergang so schön, dass man am liebsten in eines der zahlreichen Boote gestiegen und aufs Meer hinausgefahren wäre.
Eines Sommers waren wir die griechischen Inseln abgefahren, hatten auf Leros in dem herrlichen Restaurant Milos Seeigel gegessen und auf Patmos die Höhle besichtigt, in der die biblische Apokalypse geschrieben worden war.
Mit den Inseln war allerdings nicht nur Positives verbunden. Während des Bürgerkriegs waren dort Lager errichtet worden, in denen unter anderem Künstler wie Ritsos und Theodorakis gefoltert wurden. Wo immer man auf Erden hinging, stieß manauf die Schönheit der Natur und auf die Grausamkeit der Menschen.
»Was sinnierst du schon wieder, Kind?«, fragte meine Mutter. Machst du dir Sorgen um Kerem?«
»Ja. Was er wohl gerade macht? Am besten, ich rufe ihn an.«
Ich konnte meiner Mutter nicht sagen, dass ich in letzter Zeit von einer pseudophilosophischen Krankheit gepackt war und mir über das Menschengeschlecht mehr Gedanken machte, als mir guttat. Und außerdem wollte ich wirklich mit Kerem reden.
Ich stand auf, rief bei Ahmet an und ließ ihn mir geben. Als ich ihn am Apparat hatte, erklärte ich ihm, wo ich überhaupt war, und versicherte ihm, dass er in drei Monaten nachkommen würde und wir dann gemeinsam Kajak fahren würden, und dann stellte ich ihm die tausend lästigen Fragen, die eine Mutter nun mal so stellt, und bekam darauf lauter einsilbige Antworten. Doch als ich schon auflegen wollte, sagte er auf einmal: »Meine Schulkameraden reden über dich.«
Ich erstarrte.
»Und was sagen sie?«
»Sie fragen mich, ob du und Papa euch scheiden lasst.«
»Und was antwortest du?«
»Dass ihr schon lang geschieden seid. Außerdem fragen sie, ob es stimmt, dass du einen Mann liebst, der mein Großvater sein könnte.«
»Und?«
»Nein, sage ich da natürlich. Und dass der Mann ein wichtiger Agent ist und du ihn verfolgst. Ich zeige ihnen den Schlagring und das Spray und erzähle ihnen, dass in unsere Wohnung Agenten eingedrungen sind. Da drehen sie durch. Und ich stehe da wie eine Eins.«
»Gut so, Partner! Ganz toll. Und wie du den größten Agenten gefragt hast, ob er wirklich der größte Agent ist, das hätte sich auch nicht jeder getraut. Du fehlst mir, Kerem, und ich drücke dich ganz, ganz fest.«
Fast hätte ich losgeheult vor Freude, weil ich an seiner Redseligkeit merkte, dass es ihm gutging. Das Leben war doch seltsam.Ein Skandal, der mich meinen Job kostete, machte meinen Sohn glücklich und ordnete unsere Beziehung.
Zufrieden ging ich zu unserem Tisch zurück. Der Butt, der nun serviert wurde, schmeckte hervorragend. Da es meinem Sohn gutging, konnte ich noch eine Weile hierbleiben und mich ausruhen. Und mit der Übersetzung von Mimesis anfangen.
»Ich muss euch da noch was sagen. Ich bin von der Uni entlassen worden.«
Meine Eltern hielten die Luft an.
»Ihr könnt euch ja vorstellen, warum, wegen dieser Verleumdung.«
»Mach dir nichts draus«, sagte mein Vater. »Du findest schon wieder was.«
»Und das muss auch nicht gleich sein«, warf meine Mutter ein. »Bleib ruhig ein bisschen hier bei uns. Wenn es Kerem sowieso bei seinem Vater gutgeht.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Ich werde nämlich ein Buch übersetzen.«
»Wunderbar«, sagte mein Vater. »Das ist etwas, was bleibt. Komm, darauf trinken wir.«
So erhoben wir unsere Rakigläser auf die Übersetzung von Mimesis .
Was meine Eltern anging, hatte ich wahnsinniges Glück. Auch als ich ihnen eröffnet hatte, dass ich mich von Ahmet trennen würde, hatten sie das gefasst aufgenommen und mich unterstützt.
Ich wusste, dass sie auf
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