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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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das nicht irgendwie staatlich organisiert ist? Vom primitivsten Stamm bis hin zum größten Land braucht es überall diese Hirten, die die Menschen anleiten.«
    »Aber ich darf doch gegen dieses Konzept sein.«
    »Damit schlägst du dich auf die Seite überkommener Utopien. Schau dir doch an, wie in dieser Anlage alles funktioniert: wie am Schnürchen. Und wie kommt das zustande? Einzig und allein durch Autorität. Wenn du hier die Hierarchie aufhebst und jeden machen lässt, was er will, was meinst du, was dabei herauskommt?«
    »Ich bin ja nicht gegen jede Art von Disziplin. Aber die Disziplin, die von so einem Oberhirten verordnet wird, richtet mehr Schaden an, als dass sie den Menschen nützt. Warum muss alles auf Hierarchie und Druck basieren? Tun Organisation und Kompromiss es nicht genauso?«
    »Du bist in einem gefährlichen Fahrwasser. Was dir passiert ist, hat dich also nicht zur Vernunft gebracht. Wer hat dir eigentlich das alles in den Kopf gesetzt? Dieser jüdische Kommunist?«
    »Welcher jüdische Kommunist?«
    »Na, Wagner.«
    Ich musste schmunzeln.
    »Warum lachst du?«, fragte Necdet.
    »Weil er weder Kommunist noch Jude ist. Wenn in deinen Akten so viel Blödsinn steht, ist die Türkei aber arm dran.«
    »Ich weiß schon, dass er kein Jude ist. Das war nur so dahingesagt, weil doch die meisten dieser Professoren Juden waren.«
    »Seine Frau war Jüdin. Und?«
    »Du weißt natürlich nicht, was Israel für unser Land für eine Gefahr darstellt und wie die mit den Kurden im Nordirak zusammenarbeiten. Und von Zionismus und von strategischem Kalkül hast du auch keine Ahnung.«
    War ich zu weit gegangen? In seiner Schläfe pochte es. Ich konnte mich aber nicht beherrschen.
    »War Mamas Mutter Jüdin?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Und war sie Kommunistin?«
    »Auch nicht.«
    »Sie war eine türkische Muslimin, so wie ihre ganze Familie.«
    »Ja, das habe ich dir ja alles erzählt.«
    »Dafür bin ich dir auch dankbar, aber jetzt sag mir doch mal Folgendes. Der türkische Staat hat diese Menschen in den Tod geschickt, hat ihre Hilfeschreie ignoriert und mit angesehen, wie sie sich umbrachten oder erschossen wurden. Wie konnte der Staat das diesen Menschen antun, die von seinem eigenen Blut waren? Hast du dafür eine Erklärung?«
    »Die Umstände damals …«, fing er an.
    Unsere Eltern und Oya saßen Obst essend am Tisch und boten ein Bild der Zufriedenheit. Auch sie sahen hin und wieder zuuns herüber. Wir wirkten vermutlich auf sie wie zwei Geschwister, die froh waren, sich endlich wieder einmal aussprechen zu können. »Eigentlich brauchst du es nicht mir zu erklären«, fuhr ich fort, »aber unsere Großmutter hätte sicher gerne gewusst, warum ihre Eltern und ihre Brüder sterben mussten. Nun gut, sie ist von unserem Großvater gerettet worden, sonst gäbe es uns beide gar nicht. Er war auch bei der Armee, als einfacher Soldat, aber stolz bin ich auf ihn, und nicht auf meinen Offiziersbruder. Tut mir leid.«
    »Nimm dich trotzdem in acht«, sagte Necdet in einem Ton, als wollte er das Gespräch beenden. »Hätte ich dich nicht beschützt, wärst du in einer viel schlimmeren Situation. Aber irgendwann kann selbst ich nichts mehr für dich tun.«
    Es machte keinen Sinn, diesen Streit weiterzuführen. Am liebsten hätte ich meinen Bruder nie mehr gesehen. Dennoch fragte ich ihn, als wir aufbrachen: »Was hat der Geheimdienst aus dem Fall Maximilian Wagner gemacht?«
    »Man hat erkannt, dass er nicht hier ist, um wegen dieser Struma -Geschichte Staub aufzuwirbeln.«
    Ich lachte.
    »Das hätten sie auch einfacher haben können«, sagte ich. »Sie hätten mich mal besser direkt gefragt.«
    Auf dem Heimweg sagte meine Mutter: »Ihr habt euch anscheinend gut unterhalten, ihr zwei.«
    »Ja, Mama, es war schön, wieder mal so richtig miteinander zu reden.«
    »Hoffentlich können wir bald seine Beförderung zum General feiern.«
    »Das wäre schön!«
    Da klingelte mein Handy. Ein Kurierdienst rief an, für mich sei ein Päckchen eingetroffen. Es war nicht weit bis zum Abholzentrum, also bat ich meinen Vater, den kleinen Umweg zu machen.
    Zurück im Auto, riss ich den Umschlag auf. Es war ein Buch.
    Mimesis
    The Representation of Reality in Western Literature
    Mit einer Büroklammer war eine Karte daran befestigt, auf der stand:
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    Liebe Grüße
    Max
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22
    Am Abend nahmen mich meine Eltern in eine Fischtaverne in Gümüşlük mit. Necdet und Oya konnten zum Leidwesen meiner Mutter nicht mitkommen,

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