Serenade für Nadja
Kopf darauf und schloss die Augen. Ich war voller Unruhe.
Warum tat sich in diesem Land immer so viel Rätselhaftes? Wo man einen Stein aufhob, einem Menschen begegnete, eine Akte öffnete, bekam man es mit einem Geheimnis zu tun. Um mich ein wenig zu beruhigen, griff ich zu einem Mittel: Ich dachte an die Kafkasör-Hochebene in Artvin, im äußersten Nordosten der Türkei. Ich stapfte zwischen weißen Gipfeln im Schnee herum und sog die eiskalte Luft in die Lungen. Verzückt staunte ich die verschneiten Fichten und Tannen an, die mir wie lasische oder georgische Bräute vorkamen. Dann warf ich mich in den Schnee und wälzte mich darin herum, bis mir die Wangen brannten. In gedrückter Stimmung dachte ich oft an jene herrliche Hochebene in den Kaçkar-Bergen zurück, wo ich zwei Jahre zuvor beim Trekking gewesen war. Die im Sommer sprudelnden Wasserfälle gefroren im Winter und bildeten phantastische Eisstatuen. Auf den Hügeln ringsumher waren nur vereinzelte Holzhäuser zu sehen.
Auf jener Tour fühlte ich mich so froh, so innerlich gereinigt, dass ich gar nicht mehr fortwollte. Um mir von dem Gefühl etwaszu erhalten, hatte ich die drei Tannensetzlinge mitgenommen und sie in Istanbul eingetopft. Zwei davon waren eingegangen, doch einer hatte überlebt.
Seit ich die Geschichte meiner tatarischen Großmutter kannte, hatte der Setzling noch mehr Bedeutung für mich, und meine Liebe zu der Kafkasör-Hochebene wurde noch stärker. Es zog mich etwas zu meiner Großmutter hin, und ich sehnte mich nach der frischen Luft der kaukasischen Berge.
Scurla.
Mit einem Mal waren mein schöner Traum und meine Schneemeditation aus. Hitlers Sondergesandte Scurla war also wegen des Professors in unsere Uni gekommen?
Ich klappte meinen Laptop auf und gab den Namen Scurla ein. Wieder ging es mir so, dass die Suchmaschine mich mit Artikeln überhäufte, und erst als ich daneben auch noch »Hitler« eingab, kam ich auf die Beiträge, die mir weiterhalfen.
Ich speicherte, was mir interessant vorkam, und suchte dann nach Zusammenhängen zwischen Mathematik und Musik. Wieder wurde ich mit einer Fülle von Informationen überschüttet. Artikel wie etwa über die Fibonacci-Folge und die Musik oder über die Kreiszahl und die Musik speicherte ich wieder für später. Man konnte tatsächlich mit Musik chiffrieren.
Der Hausbote kam in mein Büro und brachte mir die Post, die ich rasch durchging. Zum Glück war nichts Wichtiges dabei. Dann klingelte das Telefon. Gizem war am Apparat, die Praktikantin aus dem Rektorat.
»Da ist ein Anruf für Sie, aus dem russischen Konsulat. Ich verbinde Sie.«
Eine Männerstimme mit slawischem Akzent sagte auf Türkisch: »Frau Duran, ich wünsche Ihnen einen guten Tag.«
»Guten Tag.«
»Gestatten, Arkadi Wassiljewitsch, Kulturattaché des russischen Generalkonsulats.«
»Ja bitte?«
»Wenn es Ihnen genehm ist, würde ich Sie gerne aufsuchen.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Ich würde mit Ihnen gern ein paar Dinge besprechen, die Ihre Universität betreffen.«
»Hat Ihr Besuch etwa mit Professor Wagner zu tun, der hier einmal als Dozent tätig war?«
Daran war ich nun schon so gewöhnt, dass ich mir leichten Spott nicht mehr verkneifen konnte. Arkadi Wassiljewitsch stockte ein wenig. Mit meiner Frage hatte er offensichtlich nicht gerechnet.
»Äh, paschalusta … mehr mit der Universität«, brachte er schließlich heraus. »Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen gerne erst meine Aufwartung machen und Sie dann über deren Anlass ins Bild setzen.«
Seine gestelzte Ausdrucksweise ließ vermuten, dass er sein Türkisch bei einem alten russischen Turkologen gelernt hatte.
»Ist Ihnen Montag um drei Uhr am Nachmittag recht?«
»Äußerst genehm. Verzeihen Sie nochmals die Störung.«
Eine Stunde später trafen İlyas und Kerem ein, und wir fuhren gemeinsam ins Krankenhaus. Als ich an die Tür von Professor Wagners Zimmer klopfte, hörte ich auf Türkisch »Herein!«. Als wir eintraten, sahen wir, dass der Professor allein auf dem Zimmer lag.
»Ihr Türkisch ist ja beachtlich«, lobte ich ihn.
»Ach was, ich weiß nur noch ein paar Brocken, mit denen improvisiere ich.«
»Ich habe Ihnen einen Besucher mitgebracht«, sagte ich und schob Kerem vor.
Der Professor richtete sich in seinem Bett auf und gab Kerem die Hand.
»Ihr Sohn, nicht wahr? Was für eine schöne Überraschung. Spricht er Englisch?« Dann wandte er sich an Kerem: »What’s your name?«
»Kerem.«
Obwohl der
Weitere Kostenlose Bücher