Serenade für Nadja
Schule? So wie bei reichen Leuten?«
»Ja.«
»Mama, warum hat dir die Uni das Auto gegeben? Wegen Wagner?«
»Ja.«
»Der Mann wird mir immer sympathischer.«
Ich hatte für Kerem noch eine Überraschung parat, doch die wollte ich ihm noch nicht verraten.
Wir gingen aus dem Haus. İlyas hielt mir beim Einsteigen die Tür auf. Als Kerem sich neben mich setzte, warf er einen raschen Blick auf die umliegenden Fenster, ob nicht irgendein Nachbar zuschaute. Die Sache machte ihm zunehmend Spaß. Zwar lächelte er nicht, doch trug er auch nicht mehr seine Leidensmiene zur Schau. Das nützte ich aus und drückte ihm, als wir an der Schule ankamen, einen Kuss auf die Wange, gegen den er sich nicht einmal wehrte.
»Tschüs«, sagte er nur.
In meinem Büro machte ich mich über die liegengebliebene Arbeit her. Zum Glück stand in keiner der Zeitungen etwas über den Rektor, was eine Erklärung oder eine Gegendarstellung erforderlich gemacht hätte. Dabei waren solche Artikel recht häufig. Durch die Sensationslüsternheit der Presse gerieten wir oft genug in die Bredouille. Manchmal waren persönliche Ressentiments im Spiel, wenn etwa jemand sich ärgerte, dass sein Sohn bei einer Prüfung durchgefallen war oder seine Firma einen Auftrag der Universität nicht bekommen hatte. Außerdem gab es auch die Leute, die dem Rektor sein Amt neideten oder ihm aus politischen Gründen am Zeug flicken wollten.
Wer sich via Presse über uns ausließ, den riefen wir in der Regel an und luden ihn in die Uni ein, wo er mit Argumenten und Streicheleinheiten versorgt wurde. Und wer gar nicht hören wollte, dem rückten wir mit einer Gegendarstellung zu Leibe, was aber schon nicht mehr in meinen Zuständigkeitsbereich fiel. Eigentlich bestand meine Aufgabe darin, mir in den Zeitungen nichts entgehen zu lassen.
Als ich fertig war, ging ich in die Kantine, und zwar in der Hoffnung, dort auf Nermin zu treffen, eine etwas füllige, nette Frau mittleren Alters, die das Universitätsarchiv verwaltete. Ich hatte Glück, denn ich erwischte sie, und bei meinem Anblick rief sie auch gleich freudig aus: »Maya, dass man dich wieder mal sieht!«
Wir aßen zusammen, und in einem günstigen Moment brachteich vor, dass ich über einen Gast des Rektors ein paar Informationen bräuchte.
»Über Professor Wagner?«
»Genau.«
»Kein Problem. Wir haben extra ein Archiv für alle ausländischen Professoren, die jemals an der Uni tätig waren. Das kannst du dir jederzeit ansehen.«
»Kann ich gleich nach dem Essen kommen?«
Sie nickte mit vollem Mund.
Eine halbe Stunde später stand ich in dem Archiv, in dem Hunderttausende von Akten lagerten. Nermin erklärte mir, sie seien mit der Digitalisierung des Archivs beschäftigt. Alle neuen Dokumente würden direkt digitalisiert, doch die Aufarbeitung der alten Bestände würde sich noch lange hinziehen.
»Und die Akten über die ausländischen Wissenschaftler, seid ihr mit denen schon durch?«
»Wo denkst du hin, die sind noch lange nicht dran. Und wir haben eine Unmenge davon.«
Sie brachte mich zu der entsprechenden Abteilung.
»Hier ist alles, was du brauchst. Entschuldige, wenn ich dich alleine lasse, aber ich habe viel zu tun.«
So fing ich an, die Namen auf den Akten zu lesen. Ernst Reuter, Fritz Neumark, Paul Hindemith, Alfred Braun, Ruth Sello, Robert Anhegger, Maximilian Ruben, Ernst Praetorius, Rudolf Belling, Carl Ebert, Margarete Schütte-Lihotzky, Julius Stern, Bruno Taut, Hans Bodlaender, Eduard Zuckmayer, George Tabori, Alfred Joachim Fischer, Clemens Holzmeister, Martin Wagner, Gustav Oelsner, Erna Eckstein, Ernst Engelberg … Und so ging es noch ewig weiter. Die meisten Wissenschaftler waren in Istanbul geblieben, ein kleiner Teil nach Ankara weitergereist.
Ich stieß auf einen Text, in dem es hieß:
Die vor dem Nationalsozialismus in die Türkei geflüchteten Wissenschaftler schufen die Grundlagen für die Umgestaltung des türkischen Hochschulwesens. Ab 1933 wurde die von dem Schweizer Pädagogen Albert Malche initiierte Universitätsreform umgesetzt, und das bisherige»Haus der Wissenschaften« wurde in »Universität Istanbul« umbenannt.
Seit der Gründung der türkischen Republik waren damals zehn Jahre vergangen. In ihrem Bestreben, das Land zu europäisieren, setzte die Regierung auf deutsche Wissenschaftler, die in akadamischen Disziplinen wie Recht, Medizin, Botanik, Geologie, Chemie, Biochemie und Archäologie für den Aufbau von Bibliotheken und Unterrichtsplänen
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