Serenade für Nadja
Englischunterricht in Kerems Schule durchaus gut war und er die Grammatik beherrschte, scheute er sich wie viele türkische Schüler, sich in einer Fremdsprache wirklich zu unterhalten. Noch dazu war er von Natur aus schüchtern.
Professor Wagner fragte ihn, ob in seiner Schule der Unterricht auf Englisch abgehalten wurde.
»Yes.«
Damit war das Gespräch der beiden auch schon beendet.
»Wie fühlen Sie sich heute?«, fragte ich.
»Ausgezeichnet. Ihr Freundin Dr. Filiz hat mich wieder völlig hergestellt. Mir geht es sogar besser als zuvor. Über diese Schläuche da habe ich Blut, Nahrung und Vitamine bekommen.«
Er sah tatsächlich sehr gut aus und hatte rosa Wangen.
»Morgen komme ich raus.«
»Dann hole ich Sie ab und bringe Sie ins Hotel. Für wann soll ich Ihnen den Rückflug buchen?«
»Sonntag wäre mir recht, wenn da noch etwas frei ist.«
»Gut, ich frage im Reisebüro nach.«
Wir blickten uns noch eine Weile an, und der Professor schenkte mir ein freundliches Lächeln. Dann wandte ich mich zu Kerem.
»Komm, verabschiede dich von Professor Wagner, wir gehen jetzt.«
Kerem gab dem Professor die Hand und brachte ein kaum hörbares »Bye bye« heraus. Nun, immerhin. Seltsamerweise ließ Kerem die Hand des Professors aber nicht los und druckste herum, als wollte er doch noch etwas sagen.
»Los jetzt, Kerem«, bat ich ihn.
Da fragte er Professor Wagner plötzlich auf Türkisch: »Sind Sie ein Agent?«
Mir schoss das Blut in den Kopf. Hastig sagte ich zu Professor Wagner: »Kerem verabschiedet sich von Ihnen.«
Wagner lachte.
»Ich habe ihn schon verstanden. Lassen Sie nur, das darf er ruhig fragen.«
Dann blickte er Kerem an und verneinte auf Türkisch.
Ich nahm Kerem bei der Hand und zog ihn hinaus. Obwohl ich ihm böse war wegen dieser Ungehörigkeit, sagte ich nichts.
Als wir am Empfang vorbeikamen, läutete das Telefon, und gleich darauf winkte mir die Empfangsdame aufgeregt zu.
»Der Professor hat was vergessen. Sie sollen noch mal zu ihm.«
Verwundert kehrte ich um und betrat wieder das Krankenzimmer.
»Haben Sie meine Geige gefunden?«, fragte der Professor.
Ach du liebe Güte! Das hatte ich ganz vergessen.
»Ich kümmere mich sofort darum, keine Sorge.«
Auf der Rückfahrt sagte ich zu İlyas: »Haben Sie Süleymans Telefonnummer?«
»Ja.«
»Im Mercedes muss noch Professor Wagners Geige sein. Könnten Sie die morgen bitte holen?«
»Selbstverständlich.«
Zerstreut sah ich danach zum Autofenster hinaus, mit so vielen Fragen im Kopf, auf die ich keine Antworten fand. Eingehüllt in Abgaswolken schob der Verkehr sich zäh dahin. Wer sich kein Auto leisten konnte, stand ergeben an einer Bushaltestelle, mit hängenden, wie von einer schweren Last herabgezogenen Schultern, in dem Bewusstsein, sich bald in einen schon bei der Ankunft völlig überfüllten Bus zwängen zu müssen.
Warum fragte Wagner so hartnäckig nach seiner Geige? Vermutlich, weil es ein Erinnerungsstück war. Oder etwa wegen des Chiffrierens?
Zu Hause wärmte ich unser Essen auf. Wir aßen schweigend und zogen uns dann sofort in unsere Zimmer zurück.
Mit dem Laptop auf dem Schoß las ich die Informationen über Scurla. Laut manchen Quellen war er Regierungsrat im Reichserziehungsministerium, laut anderen ein Sondergesandter Hitlers. Doch was immer er genau getan haben mochte, hatte er gewiss in Nazideutschland eine wichtige Rolle gespielt.
Auf einer Webseite stieß ich auf folgende Information:
Herbert Scurla wurde 1905 in Cottbus geboren und studierte in Berlin Jura und Volkswirtschaft. 1933 wurde er Mitglied der NSDAP . In den dreißiger und vierziger Jahren arbeitete er beim Deutschen Akademischen Auslandsdienst. Von 1937 bis 1939 hielt er sich in der Türkei auf, danach kam er zur Wehrmacht.
Am frappierensten an Scurlas Lebensgeschichte war, dass der Mann nach dem Krieg nicht juristisch belangt wurde und in der DDR völlig unbehelligt leben konnte. Er verschaffte sich sogar einen Ruf als Schriftsteller.
Interessantes fand ich auch auf einer türkischen Webseite:
Hitler war darüber ungehalten, dass vor dem Naziterror geflüchtete deutsche und österreichische Wissenschaftler in der Türkei Aufnahme fanden. Herbert Scurla reiste daher 1939 als Sondergesandter in die Türkei und schlug dem türkischen Bildungsminister Hasan Âli Yücel vor, dass die betreffenden Wissenschaftler ins Reich zurückgesendet werden sollten.
Die Türkei lehnte diesen Vorschlag allerdings ab, und die Professoren übten
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