Serenade für Nadja
weiterhin ihre Tätigkeit aus. Der Bericht, den Scurla an Hitler ablieferte, wurde 1987 gefunden.
Dann musste in dem Bericht eigentlich auch etwas über Wagner stehen. Wie aber sollte ich an den Bericht gelangen? Da konnte wieder nur das Internet helfen. Nach kurzer Suche wusste ich, an wen ich mich zu wenden hatte, nämlich an den ITS, den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, ein Städtchen in der Nähe von Kassel, wo viele Dokumente aus dem Dritten Reich aufbewahrt wurden.
Von den türkischen Behörden würde ich wohl kaum erfahren, was Wagners Geheimnis war und warum er damals ausgewiesen wurde, und auf das britische und das russische Konsulat setzte ich auch keine Hoffnungen. Blieb also nur dieser Scurla-Bericht.
Ich klappte den Laptop zu und holte aus der Nussbaumtruhe in meinem Schlafzimmer, einem Erbstück meiner Großmutter väterlicherseits, das alte Familienalbum heraus. Ich liebte dieses Album mit dem braunen Einband aus geprägtem Leder und dem Seidenpapier zwischen den vergilbten Bildern. Schon als Kind blätterte ich leidenschaftlich gern in dem Album und sah mir die Fotos mit den gezackten Rändern an.
Lange blickte ich nun auf die Aufnahmen, die meine tatarische Großmutter und ihren Mann zeigten. Mir war plötzlich, alswürde man ihren Gesichtern ansehen können, dass sie ein Geheimnis zu verbergen hatten, eine Geschichte, die sie niemandem erzählen konnten. Doch kam mir das wohl nur so vor, weil ich inzwischen so viel über sie wusste.
Meine Großmutter hatte ein breites Gesicht, das sie meiner Mutter und mir vererbt hatte, glänzende, straffe Haut und hervorstehende Backenknochen. Ihre leicht geschlitzten schwarzen Augen und ihre verschatteten Wangen verliehen ihr etwas Apartes. Mein Großvater Ali war ein magerer Mann mit eingefallenen Wangen und einer ziemlich dicken Nase. Ich versuchte, ihn mir als zwanzigjährigen Soldaten vorzustellen. Er hatte sich also in das Mädchen verliebt, das er bewachen musste, und als sie sich in die eiskalten Fluten gestürzt hatte, war er hinterhergesprungen.
Meine Großmutter, meine Mutter, mein Bruder und ich hatten ihr Leben dieser Tat zu verdanken. Mich packte auf einmal ein existentieller Zweifel. Was musste nicht alles an Zufällen zusammenkommen, damit man überhaupt geboren wurde. Wäre meine armenische Großmutter mit ihrer Familie umgebracht worden oder hätte meine tatarische Großmutter sich nicht in den Kızılçakçak-See gestürzt, gäbe es heute keinen von uns, auch Kerem nicht.
Wie konnte es sein, dass jemand gleich zwei Großmütter hatte, die knapp dem Tod entronnen waren und unter falscher Identität lebten? Hätte ich von so viel Zufälligkeit in einem Roman gelesen, wäre mir das als eine Übertreibung des Autors vorgekommen. Doch hatte mein Bruder an der Wahrheit seiner Angaben keinen Zweifel gelassen. Vermutlich hatte er offizielle Dokumente eingesehen.
Nun wusste ich auch, warum es mir bei Nachforschungen über unseren Familienstammbaum nie gelungen war, auf den Behörden etwas zu erfahren, was über zwei Generationen hinausging. Mein Bruder hatte gesagt, mehr werde nicht preisgegeben, sonst wäre der Teufel los. »Da würde man bei so manchem Politiker erfahren, von wem er wirklich abstammt.«
Derlei Verwerfungen hatten sich aus dem Versuch ergeben, aus einem Vielvölkerstaat wie dem Osmanischen Reich einentürkischen Nationalstaat zu bilden, in dem alle einander möglichst gleich sein sollten. Deshalb war auch die türkische Identität immer so ein heikles Thema. Wie mein Bruder es einmal formuliert hatte, hatten wir uns nicht wie die anderen Nationen einen Staat geschaffen, sondern bei uns hatte der Staat sich eine Nation geschaffen. So hätte man unsere Republik denn auch eher als Staatsnation bezeichnen sollen. Den Staat zu kritisieren, kam daher einer Beleidigung der Nation gleich und galt als unverzeihlich.
Nicht umsonst also mussten Millionen von Schülern jeden Morgen den Eid sprechen, der mit »Ich bin Türke« begann und auf »Mein ganzes Dasein soll ein Geschenk an das Türkentum sein« endete. Wir aber hatten den Eid immer nur laut hinausgeplärrt, ohne uns um seinen Inhalt zu scheren. Und die Armenier und Griechen in unserer Schule riefen ihn genauso laut wie wir.
Meine tatarische Großmutter hatte zwar einem Turkvolk angehört, doch der Staat war mit ihr nicht weniger zimperlich umgesprungen als mit meiner armenischen Großmutter. Ich murmelte: »Verzeih mir bitte, ich wusste nicht, was du alles durchgemacht
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