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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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    Dann küsste ich ihr Foto, steckte es zurück in das Album, das ihr Geheimnis für immer aufbewahren würde, und verschloss die Truhe wieder.
    Ich musste wieder an Wagner denken, der mir seit Montag das Leben durcheinanderbrachte. Er hatte zwar keine Ahnung von meiner tatarischen Großmutter, doch dass ich nun über sie Bescheid wusste, verdankte ich all dem, was sich seit seiner Ankunft ereignet hatte.
    Der nächste Tag war ein Samstag, da würde ich ihn aus dem Krankenhaus abholen und ins Hotel bringen, und er würde mir dann wie versprochen seine Geschichte erzählen. Das musste er ganz einfach, nach all dem Schlamassel, in das er mich gebracht hatte. Und hatte er nicht sogar gesagt, ich hätte mir das verdient?
    Ich spürte, dass ich diesem gebildeten Mann gegenüber nicht dastehen durfte wie ein dummes Schulmädchen. Da war es docham besten, ich bereitete mich ein wenig vor. Schließlich war es erst neun, und ich hatte noch viel Zeit zum Lesen.
    Das Internet war voller Informationen über die Nazizeit. Wahrscheinlich gab es kaum ein Thema, das so gut dokumentiert war. Aus all dem das Relevante herauszupicken, war sicher nicht einfach, aber ich würde es schon schaffen und dem Professor als informierter Mensch gegenübertreten.
    Ich begann bei der großen Wirtschaftskrise, die Hitler letztendlich an die Macht gebracht hatte. Während der Hyperinflation im Jahr 1923 erreichte der Wert eines US-Dollars schließlich 4,2 Billionen Reichsmark. Beim Anblick dieser Zahl dachte ich mir zuerst, da müsse ein Irrtum vorliegen, aber durch andere Quellen wurde sie mir bestätigt: Es waren wirklich und wahrhaftig 4,2 Billionen Reichsmark.
    Wir in der Türkei litten gerade unter einer Inflation und schlitterten in eine ziemliche Krise, aber damit war das nicht zu vergleichen. In dieser für mich persönlich so wichtigen Woche machte in wirtschaftlicher Hinsicht das ganze Land besondere Zeiten durch.
    Genau an dem Tag, an dem der Professor eingetroffen war, hatten der Ministerpräsident und der Staatspräsident einen Streit ausgetragen. Nach einem Besuch beim Staatspräsidenten hatte der Ministerpräsident erklärt, die Republik befinde sich »in der größten Krise ihrer Geschichte«. Während Ministerpräsidenten in der Regel eher bemüht sind, Krisen unter den Teppich zu kehren, rief der unsere eine Krise gleichsam aus und brachte sie damit erst richtig ins Rollen. Ein Dollar wurde nun schon für eine Million siebenhundertausend türkische Lira gehandelt, und viele versuchten, ihr Geld ins Ausland zu schaffen. Reihenweise erklärten Banken und Firmen Bankrott. Es wurden Geschäftsmänner verhaftet, andere begingen Selbstmord. Die Börse lag völlig am Boden.
    Mir tat es leid um das schöne Geld, das ich Tarık für Börsenspekulationen überlassen hatte. Es war bestimmt nichts mehr übrig davon, auch wenn Tarık das Gegenteil behauptete. Dabei waren diese Rücklagen überaus wichtig für mich. Ahmet drücktesich nämlich systematisch vor Unterhaltszahlungen. Mal erzählte er mir etwas von Ratenzahlungen, die ihn plagten, dann hieß es wieder, er habe einem Freund etwas geliehen und noch nicht zurückbekommen. So blieben alle Ausgaben an mir hängen, inklusive des Schulgelds.
    Ich seufzte und konzentrierte mich lieber wieder auf meine Lektüre.
    Als in Deutschland die Inflation alle Ersparnisse dahinschmelzen ließ, hörten immer mehr unzufriedene Menschen auf das nationalistische Raunen einer neuen Partei, der NSDAP. Ihr Anführer, Adolf Hitler, verstand es meisterhaft, die Enttäuschung und die Wut der Leute für seine Zwecke auszunützen.
    Hitler war durch eine Wahl an die Regierung gekommen, aber sofort sorgte er dafür, dass das Parlament sich durch ein sogenanntes »Ermächtigungsgesetz« gleichsam selbst ausschaltete.
    Warum aber hatte Wagner damals Deutschland verlassen? Er war doch kein Jude, sondern das, was die Nazis »Arier« nannten. Ich musste ihn das morgen fragen.
    Allmählich wurde ich müde, genauso wie jetzt hier im Flugzeug. Es kann nicht schaden, wenn ich mir eine halbe Stunde Schlaf gönne.
    Als ich die Augen schließe, schieben sich zwei verschiedene Zeiten übereinander. Mir ist, als hörte ich aus Kerems Zimmer das Klappern der Computertasten. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist, dass ich morgen das Geheimnis des Professors erfahren werde.
    »Gute Nacht, Maximilian«, murmle ich.

11
    Es war kurz vor neun. Genussvoll streckte ich mich. Jetzt erst mal eine heiße Dusche, ein

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