Serenade für Nadja
überlassen. Ich fing mit Kerems Zimmer an, in dem wieder alles durcheinander lag.
Auf Kerems Betttuch sah ich wieder Flecken. Natürlich wusste ich, woher sie stammten. Wenn die Phantasie eines pubertierenden Jugendlichen durch das Sexangebot im Internet hochgepuscht wurde, war so etwas wohl unausweichlich, und dennoch ekelte ich mich davor. Mit spitzen Fingern zog ich das Betttuch ab und warf es in die Wäschetruhe. Über solche Dinge hätte eigentlich sein Vater mit ihm reden müssen. Ich als Mutter konnte das nicht. Unmöglich.
Dann zog ich mich an und ging zu Fuß ins nächste Einkaufszentrum. Schon am helllichten Vormittag ging es dort lebhaft zu. Neidvoll sah ich junge Leute Kaffee trinken, und kurz war mir so, als bräuchte auch ich nur dieses Mandelaroma, um sorglos zu werden wie sie. Wie die Mädchen sich kleideten und sich verhielten, war so ganz anders als zu meiner Zeit. Manche trugen über enganliegenden Leggins einen kurzen Pullover und eine Lederjacke.
Auf jeden Fall war das nicht mehr die Türkei, die der Professor damals kennengelernt hatte. Es ging hier zu wie in jeder Metropole der Welt.
Ich machte mich auf die Suche nach Klamotten. Jetzt wo der Winter zu Ende ging, wurden einem die Waren fast nachgeworfen, und mit meiner Größe 38 fand ich problemlos ein paar Röcke, eine Jeans und zwei Jacken. Da fiel mir ein lilafarbener Herrenschal ins Auge, der mir auf Anhieb gefiel. Er war so stark reduziert, dass ich ihn gleich kaufte und als Geschenk verpacken ließ.
Dann ging ich in einen der riesigen Buchläden, wie sie nun in jedem Einkaufszentrum zu finden waren. Sogar englischsprachige Titel gab es dort. Dabei kamen mittlerweile so viele türkische Bücher auf den Markt, dass man gar nicht mehr mitkam, geschweige denn alles lesen konnte. Ob sie wohl ein Werk über die deutschen Professoren von damals hatten? Ich fragte eine junge Verkäuferin. Sie suchte eine Weile in ihrem Computer, dann führte sie mich zu einem Regal.
»Das da hätten wir.«
Es war ein dickes Buch mit rosafarbenem Einband. Der Autor war Ernst E. Hirsch, und der Titel lautete: Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks. Eine unzeitgemäße Autobiographie. Ich freute mich ungemein über diesen Fund. Noch eine Woche zuvor war mir der Name Hirsch völlig unbekannt gewesen.
Als ich an der Kasse stand, musste ich daran denken, was Wissen doch für ein seltsames Ding war. Wie ein Geist, der jahrelang in eine Flasche gesperrt war und darauf wartete, dass jemand ihn herausließ.
Ich setzte mich in das schicke Café des Buchladens und bestellte mir ein Sandwich. Aufgeregt las ich den Text auf dem Umschlag:
Prof. Hirsch verließ Deutschland 1933 und wirkte von 1933 bis 1943 in Istanbul und von 1943 bis 1952 in Ankara als Gastprofessor an der Rechtsfakultät. In seinen Erinnerungen geht er auf den Zerfall der Weimarer Republik, auf die Machtergreifung Hitlers, auf die damalige Haltung der Rechtsgelehrten und auf die ersten dreißig Jahre der Republik Atatürks ein. Dieses Buch, das aus erster Hand Einblicke indie Entwicklung unseres Universitätswesens bietet, wird jeden Juristen oder Nichtjuristen ansprechen, der sich für Geschichte, Politik und Gesellschaft interessiert.
Eine ganzseitige Aufnahme zeigte den Professor mit Brille, dunklem Anzug und Krawatte. Er sah zur Seite und ein wenig nach unten und hielt eine Hand an die stark gelichtete Stirn, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. Unter dem Bild stand: »Ein Leben, das über die Grenzen der Zeit hinausragt.« Der 1902 geborene Hirsch war um einiges älter als Professor Wagner, der Jahrgang 1914 war. Hirsch war 1985 gestorben. In dem umfangreichen Index suchte ich sogleich nach einem Maximilian Wagner, doch kam er nicht vor.
Im ersten Kapitel beschrieb Hirsch unter der Überschrift »Vergiss ja nicht, woher du kommst« seine Kindheit. Ich überblätterte das, denn mich interessierten die Hitler-Jahre, und als ich das entsprechende Kapitel entdeckte, fand ich wiederum bestätigt, was ich mir seit Tagen angeeignet hatte. Unter anderem hieß es:
Wer sich authentisch darüber unterrichten will, wie der nationalsozialistische »Umbruch« in der Realität aussah, braucht lediglich den Mut aufzubringen, die Presseberichte über den Verlauf des Judenboykott-Tags vom 1. April 1933 zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Tag der deutschen Schande ist bis heute nicht bewältigt, weil niemand wahrhaben will, wie sich ein großer Teil der Bevölkerung
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