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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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verhielt. Es galt bereits als mutig, an diesem Tag ein jüdisches Geschäft oder Büro zu betreten. Die politische Führung erkannte, was sie dem deutschen Publikum zumuten und wie weit sie ungehindert Scheußlichkeiten begehen und geschehen lassen konnte, wie sie in deutschen Städten letztmalig sechs Jahrhunderte zuvor bei denmittelalterlichen Judenverfolgungen und in neuerer Zeit nur im zaristischen und kommunistischen Russland bei den Pogromen vorgekommen waren. So tief war Deutschland gesunken! Und zwar nicht erst nach fünfjähriger Naziherrschaft bei der Pogromnacht 1938, sondern bereits zu Beginn des Regimes.
    So sehr war ich in die Lektüre vertieft, dass ich erst nach einer Weile mein Handy läuten hörte. Bis ich es aus der Tasche herausgekramt hatte, verstummte es. Ich sah, dass Filiz angerufen hatte und rief sofort zurück.
    »Entschuldige, ich hab’s nicht gleich gehört. Wann soll ich den Professor abholen?«
    »Deswegen rufe ich an. Mit deinem Professor soll noch ein Check-up gemacht werden, das dauert bis heute Abend. Komm am besten dann.«
    »Okay, dann komme ich so um sechs.«
    Darauf rief ich İlyas an und bat ihn, mich um fünf Uhr abzuholen.
    »Haben Sie die Geige gefunden?«, fragte ich.
    »Leider nein.«
    »Haben Sie Süleyman nicht gefragt?«
    »Doch, aber er sagt, sie sei nicht im Auto gewesen.«
    »Danke.«
    Es stand schon wieder Ärger an, denn entweder hatten wir in all der Aufregung die Geige am Strand vergessen, oder Süleyman log. Bei dem Versuch, den Professor zum Auto zu schleifen, hatte ich versucht, ihm die Geige abzunehmen, daran konnte ich mich noch erinnern, aber er hatte sie zu fest gehalten. Der Geigenkasten mochte liegengeblieben sein, aber das Instrument selbst? Aller Wahrscheinlichkeit nach war es mit ins Auto bugsiert worden, denn in den Sand geworfen hatten wir es ja wohl nicht.
    Ich ging nach Hause, legte mich ins Bett und las bis vier Uhr weiter.
    Doch allmählich musste ich mich vorbereiten für den bedeutsamen Abend, der mir bevorstand. Ich würde eine weiße Seidenbluse anziehen, und dazu zwei Neuerwerbungen vom Vormittag, eine schwarze Jacke und einen Schottenrock.
    Als ich mich im Bett ein wenig streckte, fiel mein Blick auf die Papiere auf der Kommode. Es waren die Informationen über das Schiff, die Kerem für mich gesammelt hatte.
    Geheim
    INNENMINISTERIUM
    GENERALDIREKTION FÜR SICHERHEIT
    Aktenzeichen: 55912-S / 13. September 1941
    Auf Ihre Anfrage vom 4. September 1941 teilen wir mit, dass allen Personen, die sich für eine Fahrt auf der Struma angemeldet haben bzw. noch anmelden werden, eine Fahrgenehmigung erteilt wird, sofern die Auswanderungsformalitäten erfüllt sind. Damit alle in Arbeitslagern befindlichen Juden, die sich angemeldet haben, ausreisen können, ist die Erstellung einer vollständigen Liste erforderlich.
    Struma hieß das Schiff.
    Auch in Rumänien wurden die Juden von den Nazis grausam verfolgt, wurden erschossen, bei lebendigem Leibe verbrannt oder auf Fleischerhaken aufgehängt. Nur wenigen Opfern, die über die nötigen Mittel verfügten, wurde eine Rettung erlaubt. Wie aber sollten sie aus dem Land gelangen?
    Anscheinend waren ab September 1941 in rumänischen Zeitungen laufend Anzeigen erschienen, die eine Schiffsreise mit der unter panamaischer Flagge fahrenden Struma nach Palästina anboten.
    Einige Angaben in den Anzeigen entsprachen aber nicht der Wahrheit. Die Fotos etwa zeigten nicht die Struma , sondern andere Schiffe. Der exorbitante Preis von tausend Dollar pro Fahrkarte deutete schon an, dass es sich nicht einfach um eine Reise handelte. Den Menschen wurden zugleich falsche Hoffnungen verkauft.
    Es lässt sich leicht vorstellen, dass der Andrang auf das Schiff riesig war. Hunderte von Reisenden wurden in Viehwaggons aus Bukarest in die Hafenstadt Konstanza geschafft, wo man sie tagelang hungrig und durstig ausharren ließ. Vom Zoll wurde ihr Gepäck beschlagnahmt.
    Aus vielen Dokumenten ging hervor, dass die Entwicklung auch von der britischen Regierung aufmerksam verfolgt wurde. Es war klar, dass London von Ankara verlangen würde, eineDurchfahrt der Struma durch den Bosporus nicht zu gestatten. So wurde also das Schicksal der Reisenden schon besiegelt, bevor sie das Schiff überhaupt bestiegen.
    Schließlich gingen siebenhundertneunundsechzig Passagiere an Bord, darunter Babys und schwangere Frauen. Sie mussten feststellen, dass das Schiff, das man ihnen als Überseedampfer angepriesen hatte, in Wirklichkeit ein

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