Serenade für Nadja
herum waren. Einer von ihnen, triefend nass, gestikulierte wild herum, und wäre er von den anderen nicht zurückgehalten worden, hätte er sich auf Maximilian gestürzt. Auch die andern wirkten wütend und riefen laut durcheinander.
Schreiend sprang Maximilian auf und lief auf das Meer zu. Er war kaum ein paar Schritte im Wasser, da hielt ein Mann ihn zurück. Den kannte er doch, es war ein Freund, warum tat er ihm so etwas an? Es war Remzi … So viele Tage lang hatten sie, ohne viel zu reden, Hoffnung und Schmerz geteilt, warum hielt er ihn nun zurück? Warum begriff er nicht? Da kamen andere Männer Remzi zu Hilfe und zogen Maximilian an den Strand zurück. Er zitterte, vor Kälte, vor Zorn, vor Schmerz. Und immer wieder schrie er: »Nadjaaaa!«
Schließlich kam ein Polizist, legte ihm Handschellen an und verfrachtete ihn in ein Auto, um ihn nach Istanbul zu bringen.
»Ist jemand gerettet worden?«, fragte er verzweifelt.
»Ja, eine Person.«
769 Passagiere, und ein einziger Mensch war davongekommen.
Auf der Polizeiwache erfuhr er, ein junger Mann namens David sei gerettet worden, alle anderen seien umgekommen.
Er schrie: »Mörder, Mörder, Mörder!«
Im Kellergeschoss der Wache wurde er in eine feuchte, modrigeZelle gesteckt, von deren Decke eine starke Glühbirne baumelte. Da die Zelle fensterlos war, wusste er bald nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war.
Er verhielt sich wie ein Geisteskranker, stand immer wieder auf und schlug mit dem Kopf an die Wand, bis ihm Blut von der Stirn lief, das er nicht einmal abwischte. Das Essen rührte er nicht an. Er legte sich auf den feuchten Zellenboden und rollte sich ein. Kaum hatte er die Augen zu, sah er wieder die Explosion. Wo Nadja zu dem Zeitpunkt wohl gewesen war? Hatte sie ihn gesehen, sich an der Reling festgehalten, auf ihn gewartet? Oder war sie unter Deck gewesen? Was war ihr letzter Gedanke gewesen? Hatte sie überhaupt Zeit gehabt, zu erschrecken? War sie hochgeschleudert worden wie so viele andere? Und war sie auf der Stelle tot gewesen, oder war sie im kalten Wasser ertrunken?
Als sie ihn zum Verhör holten, war er in erbarmungswürdigem Zustand. Er beantwortete keine Frage, begriff auch kaum, was man von ihm wollte. Doch auf einmal schrie er: »Mein Leben lang werde ich von diesem Verbrechen erzählen! Die ganze Welt soll davon erfahren!«
Es war der 24. Februar.
In den darauffolgenden Tagen wurde das Sinken der Struma oder vielmehr ihre Versenkung eifrig diskutiert. Die unterschiedlichsten Gerüchte kamen auf. Mal hieß es, die Türken hätten das Schiff torpediert, mal waren es die Deutschen. Manche behaupteten, während der Schleppfahrt nach Şile sei eine Bombe an Bord geschmuggelt worden.
Die Wahrheit gelangte erst viele Jahre später ans Licht. Die Struma war von dem sowjetischen U-Boot SC 213 torpediert worden. Stalin hatte angeordnet, im Schwarzen Meer jedes Schiff unbekannter Herkunft zu versenken. Als das von Oberleutnant Deneschko befehligte U-Boot die Struma sichtete, waren zunächst Funksignale ausgesandt worden. Als diese ohne Antwort blieben, hatte man das Schiff torpediert.
Schließlich wurde Maximilian aus dem Polizeigewahrsam entlassen und in seine Wohnung gebracht. Er stand aber noch unterHausarrest. Es hieß, die Verhöre würden zu gegebener Zeit fortgesetzt.
Wenige Tage später wurde Maximilian Hals über Kopf des Landes verwiesen. Als man ihn fragte, wohin er ausreisen wolle, sagte er: »In die USA.«
Er hatte nicht einmal Zeit, all seine Sachen zu packen. In Istanbul blieben unter anderem die Noten der für Nadja komponierten Serenade zurück. Kurz vor dem Abflug konnte er noch dafür sorgen, dass seine Sachen der Familie Arditi übergeben wurden.
Er konnte nicht wissen, dass er neunundfünfzig Jahre später nach Istanbul zurückkehren würde.
In den USA unternahm er lange Zeit keinen Versuch, mit der Türkei in Kontakt zu kommen und kümmerte sich nicht um den Verbleib seiner dortigen Habseligkeiten. Ohnehin lag er zunächst monatelang im Krankenhaus und bekam starke Medikamente.
Nachdem die Behandlung gut angeschlagen hatte, wurde er durch einen Brief wieder völlig durcheinandergebracht. Ein Brief von Nadja.
Geliebter Max,
wenn Dir Medea diesen Brief übergibt, dann sei bitte nicht traurig. Glaube ihr nicht, was sie dir erzählt. Durch ihre Schwangerschaft und ihre Krankheit ist sie sehr angeschlagen und leidet daher unter der Situation auf dem Schiff mehr als wir anderen. Das schreibe ich Dir nicht, um Dich
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