Serenade für Nadja
entdecken wollte.
Mit ihrem wohlklingenden Akzent erzählte Madame Ovadia von alten Zeiten. Sie erklärte, wer die Menschen auf den Fotos gewesen seien, und schwärmte von ihrem gutaussehenden Mann, den sie vor fünf Jahren verloren hatte. Offensichtlich litt sie unter Einsamkeit.
»Madame Ovadia«, sagte ich schließlich, »ich heiße Maya Duran und arbeite an der Universität Istanbul. Ich möchte Sie etwas fragen: Kennen Sie eine Familie Arditi, die mal hier in der Straße gewohnt hat?«
Angestrengt sah sie zur Decke hinauf, um aus den vielen Erinnerungen den Namen Arditi herauszuwühlen.
»Arditi, Arditi …«, murmelte sie.
»Matilda und Rober Arditi«, versuchte ich ihr auf die Sprünge zu helfen. »In der Nummer 17 müssen sie gewohnt haben.«
Da hellte ihr Gesicht sich auf.
»Natürlich! Wie konnte ich die nur vergessen? Ja, Matilda, sie gab mir immer bestickte Taschentücher, als ich ein junges Mädchen war. Eine wunderbare Familie, wirklich.«
»Wo sind die beiden jetzt?«
»Ach, wissen Sie, die sind um einiges älter als ich. Rober Arditi ist schon gestorben, und von Matilda habe ich gehört, dass sie in einem Altersheim ist. Über neunzig muss sie jetzt sein.«
»Aber sie lebt noch?«
»Ich weiß es leider nicht.«
»In welchem Altersheim ist sie?«
»Ach, mein Mädchen, das weiß ich auch nicht. Istanbul hat sich ja so verändert. Wenn Sie wüssten, wie es hier früher war.«
Um zu verhindern, dass sie wieder in die Vergangenheit abglitt, sagte ich schnell: »Bitte, Madame, es ist für mich sehr wichtig, dass ich Matilda finde. Können Sie bitte versuchen, sich zu erinnern?«
»Warum suchen Sie die Familie denn?«
»Das ist eine lange Geschichte. Kurz gesagt muss ich für die Universität etwas recherchieren, und dazu würde ich Matilda gerne ein paar Fragen stellen.«
»Sie können ja mich fragen, ich weiß eine Menge. Ich habe damals die Schule ›Notre Dame de Sion‹ besucht.«
»Vielen Dank, aber es geht direkt um die Familie Arditi. Deshalb …«
»Warten Sie mal. Ich glaube, İzi hat mir zuletzt von Matilda erzählt. Ich ruf sie an.«
Sie stand auf und ging zu dem alten schwarzen Telefon, das auf einer Häkeldecke ruhte. Sie nahm den Hörer ab und drehte langsam die Wählscheibe.
Dann redete sie mit besagter İzi in einer Sprache, von der ich so gut wie nichts verstand. Es kam mir vor wie ein wilder Mischmasch aus spanischen, französischen und türkischen Elementen. Doch als sie wieder auflegte, sagte sie: »Jetzt wissen wir, wo sie ist: im Altersheim Artigiana in Harbiye. Und Sie kriegen jetzt was von dem Pudding, den ich gestern gemacht habe.«
»Nein, lassen Sie nur, ich habe es ziemlich eilig. Sie haben mir sehr geholfen, vielen Dank.«
Dann ließ ich sie wieder allein in ihrer unstillbaren Einsamkeit. »Kommen Sie doch mal wieder«, sagte sie noch.
Ich ging zurück zum Beyazıt-Platz und sah vor mir das geschichtsträchtige Eingangstor zur Universität. Ich genoss die Freiheit, dort nicht hinein zu müssen, und wenn es auch nur eine Woche war. Mit dem Sammeltaxi fuhr ich nach Harbiye. Die Adresse des Altersheims hatte ich nicht, aber ich würde mich schon durchfragen. Und tatsächlich stand ich schon bald vor dem Artigiana.
Als ich im Foyer nach Matilda Arditi fragte, wurde ich in den zweiten Stock verwiesen. Auf den abgenutzten Türen standen die Namen der Bewohner, viele davon griechischer, jüdischer oder armenischer Herkunft: Kuyumcuyan, Stavropoulos, Mavromatya, Serrero.
Was mochten diese alten Mauern alles an Erinnerungen bergen, Erinnerungen an Dramen, an Feste, an Liebe … Nach einer Weile sah ich auf der linken Seite den Namen Arditi und klopfte an. Als ich eintrat, richtete eine sehr alte Dame sich im Bett auf.
»Ja, bitte?«
»Ich suche Matilda Arditi.«
»Wozu?«
»Um mich ein wenig mit ihr zu unterhalten.«
»Na, dann kommen Sie.«
Sie wies auf einen grünen Sessel am Fenster, und ich nahm dort Platz.
»Sind Sie Frau Arditi?«
»Ja, ja. Obwohl ich manchmal nicht mehr weiß, wer ich wirklich bin.«
»Hier, die habe ich Ihnen mitgebracht.«
Im Blumenladen an der Ecke hatte ich einen violetten Strauß gekauft.
»Ach, das ist aber nett von Ihnen. Wie lange habe ich schon keine Blumen mehr bekommen? Ein Jahrhundert? Zwei Jahrhunderte?«
»Ich bitte Sie, Madame Arditi, so alt sind Sie auch wieder nicht.«
»Ach, mir kommt es vor, als sei ich seit Anbeginn der Welt hier. Wie war noch mal Ihr Name?«
»Maya.«
»Maya. Ein schöner Name. Die
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