Serenade für Nadja
zu beruhigen. Du kannst mir glauben, dass es mir gutgeht. Ich weiß auch, dass ich bald hier herausgeholt werde.
Vor zwei Tagen habe ich zum Himmel hochgeschaut und dann die Augen geschlossen. Ich habe zum Herrn gefleht, er möge mir ein Zeichen senden. Als ich die Augen wieder aufgemacht habe, war mir bange, dass der Himmel vielleicht völlig leer sein könnte. So war es aber nicht. Der Herr hat mich erhört. Direkt über mir ist ein Vogelschwarm hinweggeflogen, in Form von einem V. Kein Vogel hat sich zu dicht an den nächsten gedrängt, keiner ist aus der Reihe getanzt, sondern alle haben genau den richtigen Abstand eingehalten. Und sie waren direkt über mir. Da habe ich mir gedacht, das muss ein Wunder sein.
Gott, unser aller Herr, hat mir vom Himmel ein Siegeszeichen geschickt. Jetzt bin ich voller Dankbarkeit und Freude. Ich fühle es nicht nur, ich weiß es nun: Bald werde ich gerettet, und wir kommen wieder zusammen. Dann spielst Du mir die Serenade vor, nach der ich mich sehne.
Es macht mich allein schon glücklich, in der gleichen Stadt zu sein wie Du und die gleiche Luft einzuatmen.
Bald werden wir zusammen sein und uns alles erzählen können.
Mach Dir bis dahin nur ja keine Sorgen. Es geht mir gut, ich bin gesund, wir haben es warm hier und genug zu essen.
Voller Sehnsucht warte ich auf den Tag, an dem ich Dich wiedersehen werde.
Deine Nadja
Nadja hatte den Brief Medea mitgegeben, da sie vorausgeahnt hatte, dass Maximilian die von dem Schiff ins Krankenhaus entlassene Frau sogleich aufsuchen würde. Bei Maximilians Besuch war diese allerdings so sehr geschwächt gewesen, dass sie nicht dazu gekommen war, ihm den Brief auszuhändigen, den sie dann vor ihrer Weiterreise nach Palästina der Leitung des Krankenhauses übergeben hatte.
Von dort gelangte der Brief zur Universität. Bis man im Rektorat herausbekam, an welcher amerikanischen Universität Maximilian tätig war, verging eine ganze Weile. Schließlich schickte man den Brief nach Harvard, wo Maximilian eine Stelle bekommen hatte, doch da er zu der Zeit gerade wieder im Krankenhaus war, bekam er ihn mit erneuter Verzögerung.
Hätten die Ärzte Bescheid gewusst, hätten sie nicht zugelassen, dass er den Brief in seinem Krankenzimmer las, denn unmittelbar danach fiel er in ein tiefes, dunkles Loch, aus dem er lange nicht mehr herausfand.
Als er später versuchte, sich an die Serenade zu erinnern, fiel ihm keine einzige Note mehr ein.
15
Am nächsten Morgen hatte ich ungewöhnlich viel Energie, obwohl ich nicht viel geschlafen hatte. Nachdem Kerem aus dem Haus war, schrieb ich eine Mail an das Außenministerium: Ein Angehöriger der Universität Istanbul verfasse gerade ein Buch über die Struma -Katastrophe im Jahr 1942, und ob es möglich sei, im Archiv des Ministeriums Nachforschungen zu betreiben.
An einen positiven Bescheid glaubte ich nicht, doch wollte ich nichts unversucht lassen. Vielleicht stieß ich ja auf einen verständnisvollen Mitarbeiter, der es nicht als bedenklich ansah, die diesbezüglichen Dokumente nach so vielen Jahren zugänglich zu machen.
Es schneite leicht. Ich fuhr mit dem Sammeltaxi zum Beyazıt-Platz, gerade so, als wäre ich auf dem Weg zur Uni. Dabei hatte ich diesmal etwas ganz anderes vor.
Nachdem ich auf dem belebten Platz ausgestiegen war, zog ich einen Zettel aus der Tasche. Es war eine Kopie von Maximilians Ausweisungsbescheid und enthielt seine damalige Adresse in Istanbul.
Einige Cafés am Beyazıt-Platz hatten die osmanische Tradition der Wasserpfeife wiederbelebt und fanden damit starken Zuspruch unter Studenten und Touristen. Ich selbst hatte noch nie eine probiert, nahm mir aber vor, es einmal zu tun.
Vom Duft der vielen Imbissstuben angezogen, blieb ich unwillkürlich stehen. Ich war ohne Frühstück aus dem Haus gegangen, und so setzte ich mich nun an einen der wackeligen kleinen Resopaltische und bestellte einen Toast und ein Glas Ayran. Den Kellner fragte ich bei der Gelegenheit nach der Adresse. Er kannte keine Nasip-Straße und verwies mich an den Krämerladen nebenan.
Dort fragte ich den alten Mann hinter der Theke, der lange überlegte.
»Bekannt kommt mir der Name schon vor … Aber irgendwie … Hier sind viele Straßennamen geändert worden. Fragen Sie doch mal beim Muhtar nach.«
Er beschrieb mir den Weg dorthin.
Doch auch der Muhtar, dem schließlich die Verwaltung des Viertels unterstand, kannte keine solche Straße. Also musste entweder die Adresse falsch sein, oder die
Weitere Kostenlose Bücher