Serenade für Nadja
Straße war tatsächlich umbenannt worden. Ich sprach den Mann darauf an. Er war von lähmender Langsamkeit, aber sehr hilfsbereit. Lange blätterte er in alten Heften, und tatsächlich stieß er auf die Nasip-Straße, die nun Akdoğan-Straße hieß.
Auf dem Weg dorthin dachte ich über die türkische Manie nach, alle möglichen Orte umzubennen. Warum musste jede Straße, jeder Platz, jedes Dorf den Namen wechseln? Wollte man damit vor der Geschichte davonlaufen?
Ich fragte mich, ob es wohl ein anderes Land auf der Welt gäbe, das seine Vergangenheit so oft umdefinierte, als ich in der Akdo ğan-Straße eintraf.
Sie war recht kurz und voller ungepflegter Häuser. Gepflastert war sie sehr unregelmäßig, mit uralten Steinen. Zwischen relativ neuen Gebäuden hatten sich ein paar baufällige Holzhäuser erhalten. Der Anstrich war abgeblättert, das Holz hatte sich schwarz verfärbt.
Ich ging bis zur Nummer 17, wo ein hässliches Gebäude neueren Datums stand. Es war bestimmt nicht das Haus, in dem Maximilian und die Arditis gewohnt hatten. Mir blieb nichts übrig, als den Krämerladen aufzusuchen, von dem es in jeder türkischen Straße mindestens einen gibt und der zugleich auch als Auskunftszentrum fungiert.
In dem Laden hingen Tafeln mit arabischen Gebeten. Der alte Krämer mit seinem Bart, der kreisrunden Mütze und der Gebetskette sah aus wie das Urbild des frommen, gottesfürchtigen Muslims. Ich fragte ihn, ob er eine Familie Arditi kenne.
»Wissen Sie, wir sind aus Kayseri und haben den Laden hiererst vor fünf Jahren übernommen. Wer hier vielleicht früher mal gewohnt hat, darüber weiß ich nicht gut Bescheid. Doch haben wir noch ein paar jüdische Mitbürger unter unseren Kunden, die können Ihnen vermutlich weiterhelfen.«
Er rief nach seiner Tochter: »Kübra … Kübra … Bring das Fräulein zu Madame.«
Hinter dem Tresen erschien ein schmächtiges Mädchen. Ihr schmales Gesicht war von einem streng gebundenen bunten Kopftuch umrahmt. Während sie ihren langen Mantel anzog, sagte ihr Vater zu mir: »Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?«
Ich verneinte dankend. Da drückte mir der Mann einen kleinen Karton mit arabischen Schriftzeichen in die Hand.
»Das ist ein Gebet, das Sie schützen wird, vor dem bösen Blick und vor allem Ungemach. Tragen Sie es immer bei sich.«
Es rührte mich, wie der Mann das Bedürfnis hatte, einer ihm völlig unbekannten Frau irgendeinen Schutz zukommen zu lassen.
Kübra brachte mich ein paar Häuser weiter zu einem alten Bau, an dessen wurmstichiger Holztür sie die Drehklingel betätigte. Im ersten Stock beugte sich eine alte Frau zum Fenster hinaus.
»Bist du’s, Kübra? Ich komme gleich.«
Sie sprach mit dem typischen Akzent der sephardischen Juden. Wie in solchen Vierteln üblich, wurde sie von ihrem muslimischen Umfeld »Madame« genannt. Als sie die Tür öffnete, sah sie uns über die an einem Kettchen befestigte Brille hinweg an.
»Bitte schön?«
Kübra erklärte ihr, dass ich jemanden suchte, und verschwand.
»Eine gute Familie«, sagte sie. »Mit meinem Ischias wird es immer schlimmer, und ich kann kaum noch hinaus. Also rufe ich an, und Kübra bringt mir sofort, was ich brauche. Und an Festtagen bekomme ich immer Konfekt und Lokums von ihnen.«
Sie führte mich in ein kleines Wohnzimmer. Im dem Haus herrschte ein ganz besonderer Duft, der an eine alte Welt erinnerte. Auf abgewetzten Beistelltischchen mit Einlegearbeiten standen zahlreiche gerahmte Fotos.
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Machen Sie sich bitte keine Umstände.«
»Ich habe heute meinen Morgenkaffee noch nicht getrunken. Den trinke ich mit Ihnen.«
Kurz darauf servierte sie auf einem kleinen Tablett herrlich duftenden schäumenden Mokka in zwei Tässchen, mit jeweils einem Gläschen Wasser und einen Rosenlokum. So wie es sich früher in Istanbul gehörte und man es in den modernen Cafés einfach nicht mehr bekam. Ich fragte mich wieder einmal, warum so schöne Traditionen aufgegeben wurden und die Leute lieber Instantkaffee tranken.
Ich erfuhr, dass die alte Dame Rachel Ovadia hieß und zu den sephardischen Juden gehörte, die seit einem halben Jahrtausend in Istanbul ansässig waren. Ihre Vorfahren hatten 1492 während der Inquisition die Iberische Halbinsel verlassen und sich im Hafen von Cádiz auf osmanischen Schiffen nach Istanbul eingeschifft. In jener Nacht stachen im selben Hafen auch die Schiffe des Christoph Kolumbus in See, der einen neuen Seeweg nach Indien
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