Seuchenschiff
wahrscheinlich froh sein konnten, lebend aus dem Golf von Oman herauszukommen.
5
MV Golden Dawn
Indischer Ozean
Die Hand des Straßenräubers presste sich wie eine Stahlklammer auf Jannike Dahls Mund und Nase. Sie bekam keine Luft, und jeder Versuch, ihn abzuwehren und sich zu befreien, machte es nur noch schlimmer. Indem sie sich mit aller Kraft gegen die Umklammerung stemmte, schaffte sie es, ein wenig Luft einzuatmen, kaum genug allerdings, um die Dunkelheit abzuwehren, die sie zu verschlingen drohte. Verzweifelt drehte sie sich hin und her, nur um feststellen zu müssen, dass die Hand in ihrem Gesicht keinen Millimeter nachgab.
Es würde nur noch Sekunden dauern, bis die Ohnmacht sie überwältigte, aber es gab nichts, was sie dagegen hätte tun können. Es war, als würde sie ertrinken, der schrecklichste Tod, den sie sich vorstellen konnte. Nur war es keine eisige Wasserflut, die ihr das Leben nehmen würde, sondern es wären die Hände eines Fremden.
Jannike bäumte sich ein letztes Mal auf, machte einen allerletzten verzweifelten Versuch, sich zu befreien.
Sie wachte mit einem gurgelnden Seufzer auf. Ihr Kopf und ihre Schultern richteten sich vom Bett auf, um sofort von den Laken und Decken, unter denen sie lag, wieder zurückgezogen zu werden. Der transparente gegabelte Plastikschlauch, der reinen Sauerstoff in ihre Nase leitete, hatte sich um ihren Hals geschlungen und würgte sie genauso heftig wie der Asthmaanfall, unter dem sie gerade litt.
Mit den lähmenden Nachwirkungen des Albtraums ringend, der einen solchen Anfall stets begleitete, wenn sie schlief, suchte Janni tastend nach dem Inhalator auf dem Nachttisch, wobei sie sich vage bewusst wurde, dass sie immer noch im Schiffslazarett lag. Sie schob das Mundstück zwischen ihre Lippen, betätigte mehrmals die Düse und atmete das Ventolin so tief ein, wie ihre mit Flüssigkeit gefüllte Lunge es zuließ.
Als die Medizin ihre verkrampften Atemwege entspannte, konnte Janni mehr von dem Medikament inhalieren und so die heftigsten Symptome des Anfalls lindern. Es half nicht, dass ihr Herz nach dem Albtraum immer noch raste oder dass sie ihre Atemkanüle gelöst hatte, so dass nur noch ein Nasenloch mit Sauerstoff versorgt wurde. Sie justierte den Plastikschlauch ordnungsgemäß und spürte sofort einen positiven Effekt. Sie schaute zum Monitor über ihrem Bett und sah, dass der Sauerstoffgehalt ihres Blutes plötzlich anstieg. Sie glättete die Laken und suchte sich in dem schräg gestellten Bett eine bequemere Lage.
Dies war ihr dritter Tag in der Krankenstation, der dritte Tag, an dem sie stundenlang allein war, sich furchtbar langweilte und ihre geschwächte Lunge verfluchte. Ihre Freundinnen hatten sie regelmäßig besucht, doch sie wusste, dass keine von ihnen Lust hatte, sich länger bei ihr aufzuhalten. Sie konnte es ihnen nicht übel nehmen. Ihr dabei zuzusehen, wie sie wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte und an ihrem Inhalator saugte, war sicherlich nicht besonders erbaulich. Sie hatte noch nicht einmal die Kraft, der einzigen Krankenschwester zu gestatten, ihre Bettwäsche zu wechseln, und konnte sich vorstellen, wie ihr Körper mittlerweile riechen musste.
Plötzlich wurde der Vorhang um ihr Bett zurückgezogen. Dr. Passman bewegte sich stets so leise, dass Janni nie bemerkte, wenn er den Ruheraum betrat. Er war in den Sechzigern und ein pensionierter Herzchirurg aus England, der nach der Scheidung seine Praxis aufgegeben und als Schiffsarzt zur Golden Cruise Line gegangen war, um ein friedlicheres Leben zu führen – und auch, weil er seiner Ex-Frau die Hälfte seines früheren Einkommens nicht gönnte.
»Ich habe Sie schreien gehört«, sagte er und achtete mehr auf die Monitore als auf seine Patientin. »Sind Sie okay?«
»Ich hatte wieder so einen Anfall.« Janni brachte ein mattes Lächeln zustande. »So wie während der letzten drei Tage.« Dann fügte sie mit ihrem lispelnden skandinavischen Akzent hinzu: »Es war aber nicht so schlimm wie vorher. Ich glaube, es geht allmählich vorbei.«
»Das zu entscheiden, sollten Sie lieber mir überlassen«, sagte er und sah sie schließlich an. Sorge lag in seinen Augen. »Sie sind immer noch so blau wie eine Waldbeere. Meine Tochter hat chronisches Asthma, aber nicht so schlimm wie Sie.«
»Ich habe mich daran gewöhnt«, gab Janni achselzuckend zurück. »Meinen ersten Anfall hatte ich, als ich fünf war, daher schlage ich mich schon drei Viertel meines Lebens
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