Sex and Crime auf Königsthronen
zum Obersten Hirten Englands, um sich künftig höchstselbst so viele Scheidungen genehmigen zu können, wie seiner Majestät beliebten.
Der drastische Schritt verdankt sich dem süßen Geheimnis seiner berühmtesten Mätresse. Anne Boleyn ist schwanger, und der erhoffte Sohn soll nicht als Bastard zur Welt kommen, sondern als legitimer Prinz in einem Ehebett geboren werden. Es wäre nämlich Heinrichs erster männlicher Erbe und Thronfolger. Katharina, seine erste Ehefrau, patzte in dieser Hinsicht und hatte nur ein Mädchen hervorgebracht.
Gewinnbringend ist die Glaubenserneuerung für Heinrich außerdem. Als Kirchenfürst kann der König sämtlichen Klosterbesitz und alle Kirchenschätze einsacken und verprassen oder an wichtige Höflinge verteilen.
Grausam, skrupellos und selbstverliebt – so meinen wir Heinrich VIII. zu kennen, und vieles spricht für diese unschöne Charakterskizze. Vor allem die Porträts seines deutschen Hofmalers Hans Holbein d. J., der den Tudorherrscher zwischen 1537 und 1547 mehrfach für die Nachwelt festhält. Wer die Bilder nicht sofort vor sein inneres Auge rufen kann, schlage bitte rasch in einem Lexikon oder bei Google nach. Fertig?
Aus leicht treuherzigen Schweinsäuglein starrt uns der Blaubart aus den Gemälden entgegen: Breitbeinig, mit rotem Rauschebart, ohne erkennbaren Hals, im eigenen Fett und in juwelenüberkrusteten Gewändern versinkend. Schulterpolster von fantastischen Ausmaßen sollen von seinem Leibesumfang ablenken. In den Augen moderner Betrachter verwandeln sie Heinrich in ein wandelndes Geschoss. Ein Fashion victim – Modeopfer – würde man ihn in Frauenmagazinen nennen. Doch zu Lebzeiten Heinrichs sieht man das ganz anders.
Protz ist Königspflicht, die drohende Herrscherpose ein Muss und Leibesfülle Zeichen von Würde und Wohlstand. Hinzukommt, dass viele Untertanen den Tudorspross noch als optischen Leckerbissen in Erinnerung haben. Ja, in jungen Jahren ist Heinrich schlank, ein Vorzeigesportler und der Kultprinz Europas. Zu Beginn seiner Herrschaft im Jahr 1509 – Heinrich ist siebzehn – vermeldet Venedigs Botschafter in die Heimat:
»Die Natur hätte nicht mehr für ihn tun können. Er ist weitaus schöner als irgendein anderer Herrscher der Christenheit.« Eine Hymne unter vielen, die vermuten lassen, dass Heinrich im England seiner Tage bei einer Model-Castingshow echte Gewinnchancen gehabt hätte.
Holbeins exzellent gemalte Nahaufnahmen dagegen zeigen den aus der Form geratenen Herrscher in seinen späten Fünfzigern. Und selbst den werden seine Zeitgenossen noch recht ansehnlich gefunden haben. Wir müssen bedenken, dass ärmere Menschen jener Tage, sprich die überwältigende Mehrheit, in diesem Alter weit erbärmlicher ausgesehen haben. So sie überhaupt noch lebten. Gemalt hat sie wohl keiner.
Es sind Holbeins Bilddokumente des Königs, die den Romanautor Charles Dickens (»Oliver Twist«) im bürgerstolzen 19. Jahrhundert zu einem vernichtenden Urteil über Heinrich veranlassen, das bis heute nachwirkt: »Ein unerträglicher Rohling, ein Blut- und Fettfleck in der englischen Geschichte.«
Das sitzt, und das entspricht der heute noch populären Wahrnehmung.
Ist sie angemessen, oder handelt es sich um eine optische Täuschung? Hat der zeitlose Superstar unter Europas Königen ein gerechteres Urteil verdient? Zumindest ein detailgetreueres. Allein mit Fresssucht, Mord und Totschlag wird kein König weltberühmt, und das über Jahrhunderte. Der deutsche Historiker Joachim Fest hat Ruhm und geschichtliche Größe an der Frage festgemacht, ob ein Herrscher das Denken und Fühlen seiner Epoche zu verkörpern vermag. Und genau das konnte Heinrich VIII. wie kein Zweiter. Als junger Prinz und als später Tyrann.
Er ist zugleich Produkt und überragender Repräsentant einer Epoche, die ebenso widersprüchlich ist wie er und sein Leben. Die Renaissance ist reich an widerwärtigen Grausamkeiten und gelehrtem Feingefühl, berühmt für überragende Kunst und für entsetzliche Folter- und Hinrichtungsmethoden, bekannt für völlige Gewissenlosigkeit und für ehrliche Sehnsucht nach Glaubenserneuerung. All dies kann man so auch über Heinrich sagen.
In seiner Jugend gilt der Tudor als überaus liebenswert, empfindsam, gebildet, großzügig, romantisch bis zur Schwärmerei. Erst in späteren Jahren ist er krankhaft misstrauisch, launisch und notorisch grausam.
Wer Holbeins späten Heinrich genau anschaut, erkennt in seinem Gesicht noch Spuren von
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