Sex ist verboten (German Edition)

sich setzen. Jemand fängt an, sehr tief zu atmen, rhythmisch, hinter uns, eine neue Schülerin, die ihren Atem nicht findet. Sie schnauft wie ein Blasebalg. Wir bereiten uns auf
vipassanā
vor, darauf, den ganzen Tag fleißig zu arbeiten: das Einatmen, das Ausatmen. Über die Lippe. Mindestens eine halbe Stunde lang nichts als atmen. Ein und aus. Vorbereitung. Ein silbriger Luftstrom, der das Wasser eines tiefen Ozeans teilt. Eine silbrige Lebenslinie in der Dunkelheit. Irgendwo muss sie an die Oberfläche kommen. Irgendwo muss sie mit der Zukunft verbunden sein. ICH HABE ZEHN MINUTEN LANG NICHT GEATMET, JONATHAN. ZEHN VOLLE MINUTEN! EIGENTLICH MÜSSTE ICH TOT SEIN. JETZT SCHWILLT MEIN GEHIRN AN. SIE MÜSSEN MICH INS KOMA VERSETZEN, SONST STERBE ICH .
    Stille. Meine Brust hebt und senkt sich. Ohne zu atmen beobachte ich mich selber beim Atmen. Es ist eine ganz sachte Bewegung. Ein leichtes Heben und Senken der Brust, des Zwerchfells. Das Meer hat sich beruhigt und das Wasser schwappt ganz sachte auf den Sand, hebt und senkt sich ganz sachte, wie ein Kuss, wie eine Zärtlichkeit. In der Dunkelheit kommen die Gesichter. Ein Frauengesicht mit sehr deutlichen Zügen, üppiger Mund, blasse Haut, graue Augen in einem Netz aus Falten. Jetzt ein dunkler Mann, ein echter Schwarzer, der von tief unten hochschaut, von unter dem Fußboden der Meditationshalle. Er ist resigniert, müde, sympathisch. Jetzt ein kleines Mädchen mit honigblondem Haar, ganz dicht vor mir. Stupsnase. Gleich wird sie lächeln, gleich wird sie den Kopf schütteln. Wenn sie es tut, wird mich ihr Haar berühren. All diese Gesichter sind sehr ausgeprägt. Sehr ruhig, sehr wissend. Bin ich es, die sie anschauen? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht schauen sie jemanden hinter mir an,weiter weg. Sie erscheinen und verblassen. Hier ein junger Mann, da ein chinesischer Junge. Erst sind sie nicht da, dann sind sie da, dann sind sie weg. Gesichter, die zwischen den Sternen aufscheinen. Du liegst auf dem Rücken neben deinem Zelt in den Dünen. Du weiß, du hättest nicht herkommen sollen. Du hättest wirklich nicht mit einem Mann in Urlaub fahren sollen, den du nicht liebst. Du hättest ihm nicht erzählen sollen, dass du schwanger bist. Er ist überglücklich. Er ist seinem Ziel so nah. Heirate Beth, Carl, heirate Marriot’s. Du schaust nach oben und entdeckst ein Gesicht zwischen den Sternen. Warum hast du es ihm erzählt? Schon ist es wieder weg. Aber jedes Gesicht ist zu wirklich, zu präsent, um bloße Einbildung zu sein. Wer sind diese Menschen? Ich weiß es nicht. Haben sie mir etwas zu sagen? Sie schweigen. Sind es meine früheren Leben, die gekommen sind, um über mich zu wachen? Beths frühere Leben? Herrgott noch mal! Sind es Leben, die noch kommen werden? Ein alter schwarzer Mann? Sind sie wohlwollend? Ich glaube ja. Wohlwollend und gleichwertig. Ja, ich glaube, sie sind alle gleichwertig. Nein, sie sind
ein und dasselbe.
Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber in gewisser Weise ist es ein und dasselbe Gesicht. Ich bin eine von ihnen. Wir sind Weggefährten. Ich bin auch dieselbe. Mein Gesicht erscheint ihnen, wie ihre Gesichter mir erscheinen. Sind wir saṅgha?
Sangham saranam gacchami.
Ich nehme Zuflucht im saṅgha, in der Gemeinschaft der Meditierenden. Wie kann ich zu einer Dasgupta-Person werden: Ist das die Frage, die ich Mi Nu stellen muss? Dies sind die Gesichter von Dasgupta-Menschen. Sie haben diesen gewissen Blick. Ich muss Zuflucht im Saṅgha nehmen. Sie erscheinen und verschwinden. Ich verstehe jetzt, warum Mi Nu nicht mit mir sprechen wollte, als ich um Hilfe rief. Die eigene Geschichte auszuposaunen würde einen nur noch tiefer hineinstürzen. Ist es nichtso, wenn man anfängt, alles zu erzählen? Es macht alles nur noch schlimmer. Man stürzt noch tiefer. Schreiben ist im Dasgupta-Institut verboten. Wenn du dich dafür entschieden hast, still zu sitzen, Elisabeth, dann hast du die richtige Entscheidung getroffen. Also sitze still und schweige. Bitte nicht um Hilfe. Wenn du betrogen und einem Geliebten das Herz gebrochen hast, dann hast du betrogen und einem Geliebten das Herz gebrochen. Es gibt kein Heilmittel. Wenn du betrogen wurdest und dein eigenes Herz gebrochen wurde, dann bist du betrogen worden und dein eigenes Herz ist gebrochen. Du bekommst es nicht zurück. Wenn du getötet hast, dann hast du getötet. Es gibt keine Hilfe. Sitze still und schweige.
    Die Welt, wie sie ist,
wie sie ist.

VIPASSANĀ
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