Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Wohlfahrt arabischer Gesellschaften haben. Was sexuell übertragbare Infektionskrankheiten, Abtreibung oder sexuelle Gewalt angeht, so besteht die Herausforderung darin, jenseits herkömmlicher Vorstellungen von Anstand und Sittlichkeit eine »behagliche« Sprache für Sexualität – ihre Probleme und ihre Freuden – zu finden.
Religion und Kultur haben die Menschen in der Region von jeher ermuntert, private Angelegenheiten unter Verschluss zu halten. »Jedem Mitglied meiner Gemeinde wird vergeben, außer denjenigen, die sich mit ihren Sünden brüsten«, bemerkte der Prophet Mohammed in einem bekannten Hadith. Denjenigen, denen dies etwas vage erschien, bot er eine Klarstellung an. »Zu den Prahlern gehört auch der Mann, der nachts etwas tut und morgens, obgleich er von Gott [gegen eine Enthüllung] abgeschirmt wurde, sagt: ›Leute, gestern Nacht habe ich dies und jenes getan.‹ Obgleich er, verhüllt von Gott, geschlafen hat, zieht er am Morgen den schützenden Schleier Gottes von sich.« 2
Überall in der arabischen Welt besteht auch weiterhin eine beachtliche Kluft zwischen Schein und Sein, zwischen dem, was hinter verschlossenen Türen geschieht, und dem, was öffentlich zugegeben wird. In der Wohnungsgestaltung spiegelt sich die Lebensweise wider: makellose Empfangszimmer, um Besucher zu beeindrucken, aber unansehnliche Hinterzimmer, die dem allgemeinen Blick verborgen bleiben. Es gibt ein Wort für dieses Auseinanderklaffen zwischen privatem und öffentlichem Verhalten: »Heuchelei«. Männer, denen vorehelicher Geschlechtsverkehr freisteht, während von Frauen erwartet wird, dass sie unberührt bleiben; Jungfräulichkeit, die nicht als Keuschheit, sondern als anatomischer Zustand definiert wird; Sextourismus, der sich als Ehe ausgibt; Reisende, die daheim ihre Frömmigkeit zur Schau stellen, aber sobald sie im Ausland sind, fern von den Augen ihrer Landsleute, wüst über die Stränge schlagen; und viele weitere Beispiele für die Diskrepanz zwischen öffentlichem Auftreten und privater Wirklichkeit.
Im Westen gibt es – und selbstverständlich verallgemeinere ich hier – eine größere Überschneidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Gesicht der Sexualität als in Ägypten und seinen Nachbarländern. Tatsächlich braucht man nur Reality-TV anzusehen, auf Facebook herumzustöbern oder seine eingehenden Tweets zu überfliegen, um sich zu fragen, ob es überhaupt einen Unterschied gibt. Wie Michel Foucault in seiner berühmten Geschichte der abendländischen Sexualität schrieb: »In der Reihe ihrer Embleme führte unsere Gesellschaft das des sprechenden Sexes. Des Sexes, den man überrascht, den man verhört und der, gezwungen und redselig zugleich, unablässig antwortet … Wir alle leben seit Jahren im Reiche des Fürsten Mangogul: Beute einer ungeheuren Neugier auf den Sex, versessen darauf, ihn auszufragen, unersättlich darin, ihn sprechen zu hören, geschickt im Erfinden all der magischen Ringe, die seine Diskretion bezwingen können.« 3
Foucault stellte die Theorie auf, der Sex sei im 19. Jahrhundert keineswegs unterdrückt worden, sondern gesund und munter gewesen und in einem medizinischen und wissenschaftlichen Diskurs kanalisiert und immer detaillierter erkundet worden, den er scientia sexualis nannte. Eine zentrale Rolle bei der Entstehung dieser neuen Art und Weise, über Sexualität zu denken und zu sprechen, spielte seiner Meinung nach eine uralte Institution: das Geständnis. Die christliche Beichte, eine religiöse Pflicht, hatte immer einen starken sexuellen Inhalt, aber um das 16. Jahrhundert herum, so Foucault, löste sie sich allmählich aus dem religiösen Bereich und wanderte in weltliche Disziplinen ein, wie die Medizin und die Psychiatrie. Foucault erlebte Opra h beziehungsweise YouPorn nicht mehr, aber der Geist der Beichte lebt unverkennbar in unserer 24/7-Medienwelt weiter.
Der Islam dagegen kennt keine Kultur der Beichte. Sowohl der Koran als auch die Hadithe ermahnen die Gläubigen eindringlich, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern und zu schweigen. Den Schutz der Privatsphäre gesetzlich zu verankern und durchzusetzen ist der Schlüssel zum Fortschritt im Bereich der Menschenrechte, vor allem für diejenigen, deren Verhalten, wie etwa kommerzielle Sexarbeit und gleichgeschlechtliche Beziehungen, nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. Wie wir gesehen haben, kann der Islam mit seiner Betonung der Privatsphäre hier hilfreich sein, und
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