Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
beschleunigte sich bei der Erinnerung an ihn, wie er über ihr aufgeragt hatte, ein Mysterium aus schattenhaften Flügeln und Leder, seine Augen rot glühend wie Kohlen. Wenn er nicht transformiert war, waren seine Augen grün. Ein ungewöhnliches, blasses Grün.
Nach dem Datum der Zeitung neben ihrem Bett zu schließen, waren drei Wochen vergangen, seit er ihr und den anderen Vollstreckern geholfen hatte, die Dunkle Braut zu besiegen. Doch es gab überhaupt keinen Grund dafür, dass sie seinen Trost ersehnte. Ihre gemeinsame Zeit ließ sich eher in Minuten messen statt in Stunden, und ihr Verhältnis war professioneller Natur gewesen, ohne die geringste Intimität.
Er bedeutete ihr nichts, und sie bedeutete ihm nichts.
Sie hatte ein Treffen mit ihm erbeten, und er hatte zugestimmt.
Sie hatte geredet, und er hatte zugehört.
Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, und nach einigem Bedenken hatte er zugestimmt. Der Rest war schockierend schnell gegangen, in einem Blitzgewitter aus Flügelschlägen und sich kreuzenden Schwertklingen. Er war ein attraktives und aufregendes Rätsel gewesen, eines, von dem sie hoffte, dass sie es näher erforschen konnte. Aber jene Nacht im Uhrenturm hatte alles verändert.
Elena hockte auf dem Stuhl neben dem Bett, die Hände auf dem Schoß fest ineinandergelegt.
»Ich wünschte, ich könnte den Verlauf Ihrer Genesung voraussagen, oder wie lange es dauern wird, bis Sie wieder sind wie immer.« Sie blinzelte Tränen weg. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut, Selene. Ich fühle mich so verantwortlich. Ich weiß, dass Schattenwächter zu sein Ihnen alles bedeutet.«
Zorn loderte tief in Selenes Herzen auf, aber sie schluckte die scharfen Worte herunter, die ihr auf der Zunge lagen. Sie war immer heißblütig und herrisch gewesen und darin ihrer Mutter, Kleopatra, sehr ähnlich. Sie wollte toben, wollte ihrer liebsten Freundin zürnen – ihrer einzigen Freundin –, weil sie sie in diesen ungewohnten und verletzlichen Zustand versetzt hatte. Stattdessen zwang sie sich, ihre Aufmerksamkeit auf die schwarze Lotusblume zu richten, die in einer Kristallschale mit Wasser neben dem Bett schwamm.
Elena – sie war immer so aufmerksam. Natürlich wusste sie, dass die Lotusblume Selenes Lieblingsblume war. Die Blüte in der Schale war etwas ganz Besonderes, weil die Pflanze, während die Einfälle und das Eingreifen der Sterblichen die Atmosphäre des Äußeren Reichs besudelt hatten, irgendwann ausgestorben war. Jetzt wuchs schwarzer Lotus nur in der reineren Luft des Inneren Reichs. Trotz des Namens waren die Blütenblätter nicht wirklich schwarz, sondern von einem tiefen Purpur, umrahmt von leuchtendem Grün.
Obwohl ihre Freundschaft kurz gewesen war, schien Elena sie besser zu verstehen als irgendjemand sonst, und sie begriff, was keiner von ihnen aussprechen wollte: Ohne ihre Kräfte und ihren Status innerhalb der Schattenwächter würde Selene nichts bleiben. Die Pferde, die Juwelen und die Reichtümer, die sie im Laufe ihrer Existenz angesammelt hatte, würden ihr keinen Trost schenken. Nichts von alledem war Elenas Schuld.
Und so handelte Selene gegen ihre impulsive Natur und mäßigte ihre Worte, indem sie sagte, was sie sagen
sollte
. »Sie haben es nicht mit Absicht getan. Was immer morgen geschieht oder übermorgen, bleibt abzuwarten.«
Elena drückte ihre Hand und flüsterte: »Ihre Fähigkeiten werden vielleicht nie mehr zurückkehren. Ich bete darum, dass sie zurückkehren werden, aber …«
»Ich bin nicht tot, Elena.«
Aber noch während sie die Worte sprach, fragte sich Selene, ob sie vielleicht tot
war
. Sie fühlte sich innerlich tot, all der Dinge beraubt, die sie zuvor ausgemacht hatten. Sie würde nichts an der Nacht im Uhrenturm ändern, als sie und die anderen die Dunkle Braut besiegt hatten. Binnen eines Herzschlags würde sie sich abermals selbst opfern – würde selbst ihr Leben opfern –, um ihren Zwillingsbruder vor dem Wahnsinn der Transzendierung zu retten, die gedroht hatte, ihn für immer in Besitz zu nehmen und ihn vor dem zu bewahren, was gewiss gefolgt wäre: sein Tod. Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn die anderen Vollstrecker sie hingerichtet hätten, statt sie in diesen Zustand der Machtlosigkeit zu stürzen?
Archer erschien in der Tür. »Wir sind jetzt bereit für sie.«
»Ist Mark hier?«, fragte Selene Elena. Mehr als irgendetwas sonst wollte sie ihren Zwillingsbruder sehen. Warum hatte er sie nicht bereits besucht? Er
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