Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
die Arme vor ihren breiten Oberkörpern verschränkt und ausdruckslose Mienen aufgesetzt. Selene hatte gehört, dass Elena von ihnen als Tres und Shrew gesprochen hatte. Sie musterte sie mit schmalen Augen. Wenn sie sich im Vollbesitz ihrer Kräfte befunden hätte, wären mindestens doppelt so viele von ihnen nötig gewesen, um sie hier festzuhalten, wenn sie nicht zu bleiben wünschte. Sie seufzte und schloss die Augen. In ihrem gegenwärtigen Zustand erschöpfte sie der bloße Gedanke, die beiden Männer in eine Rauferei zu verwickeln.
Eine Messinglampe auf dem Tisch neben ihr verbreitete weiches Licht. Die Vorhänge blieben zugezogen, und sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Elena goss Wasser aus einem Krug in ein Becken. Als sie ein dumpfes Pochen des Schmerzes in ihrer Handfläche bemerkte, schaute sie auf den Mullverband hinab, mit dem ihre Hand umwickelt war.
Bruchstückhafte Erinnerungen blitzten auf wie zerbrochene Glasscherben. Die tote Frau. Das Messer in ihrer Hand.
Avenage.
Sie zog den Verband von ihrer Haut und wickelte mehrere Runden ab, bis sie einen schwachen, scharlachroten Fleck auf dem Mull sah. Ihr Blut. Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Ein weiteres Ziehen und Zerren, und die schreckliche Wahrheit offenbarte sich: Eine säuberliche Reihe von Stichen zog sich über ihre Handfläche.
Während sie in den Reihen der Schattenwächter gedient hatte, hatte sie zahllose Verletzungen erlitten: Schnitte, tiefere Wunden und sogar Pistolenschüsse, die die bösartigen, gewissenlosen sterblichen Seelen, die sie jagte, ihr zugefügt hatten. Ja, sie kannte die Erfahrung von Schmerz und Verletzungen, und ja, sie hatte geblutet, bisweilen heftig, aber sie hatte nie genäht werden müssen. Wie bei allen Schattenwächtern heilte ihr amaranthinischer Körper mit erstaunlicher Geschwindigkeit, sodass sie nicht die kleinsten Narben davontrug. Die einzigen Narben an ihrem Körper waren die, die sie sich in ihrer Kindheit zugezogen hatte.
Obwohl sie im Alter von zwölf Jahren zu einer amaranthinischen Unsterblichen gemacht worden war, hatte sie ihre außerordentlichen Fähigkeiten erst erlangt, als ihr Körper ausgereift war. Dann hatte sie sich gänzlich verwandelt.
Ihr Rücken war von schmalen Peitschenstriemen gezeichnet, ihre Handgelenke und Knöchel trugen die Narben, die Octavians goldene Ketten zurückgelassen hatten.
Jetzt starrte sie auf ihre verletzte Handfläche. Da die Wunde offen der Luft ausgesetzt war, verstärkte sich das Pochen, das zuvor kaum wahrnehmbar gewesen war, um ein Zehnfaches. Es brannte, als öffne sich der Schnitt weit … weit … weiter. Wenn auch schwach, schlug Selene mit der Hand auf die Matratze, als könnte der Schlag auslöschen, was sie sah und fühlte.
»Bin ich jetzt sterblich?«, flüsterte sie.
»
Nein
.« Elena huschte am Bettrand entlang und setzte sich dann auf den Stuhl daneben. Ihre Wangen waren rosig und ihre Augen groß, als sei diese Tragödie ihre eigene. Die beiden Rabenkrieger beobachteten alles mit harten Blicken von ihrem Posten an der Tür.
Elena erklärte: »Es heilt schneller als bei jedem Sterblichen, nur nicht so schnell wie zuvor. Ihr Körper scheint sich in einer Art Übergangsstadium zu befinden.«
Selene sprach die Fragen aus, die sie am meisten beschäftigten. »Ist die Transzendierung immer noch wirksam, irgendwo in meinem Kopf? Wird mein Verstand verfallen? Werde ich wahnsinnig? Ich
fühle
mich nicht wahnsinnig, und ich höre keine Stimmen, wie mein Bruder es beschrieben hat …«
Elena schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht … ich …«
»Sagen Sie mir die Wahrheit«, platzte Selene heraus.
»Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen.«
Selene richtete sich im Bett auf. »Sie müssen es mir sagen. Ist es möglich, dass ich diese arme Frau getötet habe?«
»Das hätten Sie niemals getan«, versicherte Elena ihr. »Hätten es nicht tun können.«
Und doch sah Selene den Zweifel in den Augen ihrer Freundin.
»Wer war sie?«
»Eine Prostituierte.«
»Genau wie die, denen Jack the Ripper und die Dunkle Braut aufgelauert haben.«
»Ja«, räumte ihre Freundin im Flüsterton ein.
Wo war Avenage? Gegen jede Vernunft kehrten ihre Gedanken zu ihm zurück, als würde er ihr inmitten der Verwirrung und dem Entsetzen dieser Augenblicke Halt geben können. Sie stellte sich seine Arme vor und wie sie sie umschlungen hielten. Seine beruhigende Stimme in ihrem Ohr – aber sie hatte ihn nie auf solche Weise gekannt.
Ihr Puls
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