Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
hatte sie in dem Glück seiner jungen Ehe mit Willomina Limpett ganz bestimmt nicht vergessen. Sie konnte das nicht glauben, wo doch lang vergangene Tragödien ihrer beider Leben so fest aneinander gebunden hatten.
»Nein, meine Liebe«, flüsterte Elena. »Was das betrifft, das werde ich Ihnen später erklären.«
Selene krallte die Finger in die Decke. »Dann wünsche ich keinen Besuch.«
Es sei denn, es wäre Avenage. Aber selbst dann würde sie sich gern ankleiden und das Haar aufstecken lassen. Sie hasste es, sich im Morgenmantel sehen zu lassen, als sei sie eine Invalide. Doch die Schwäche in ihren Gliedern und ihre Schläfrigkeit, die nicht vergehen wollte, erinnerten sie daran, dass sie genau das war.
Elena sah Archer an und runzelte unwillig die Stirn. »Sie ist immer noch sehr schwach und kann kaum gehen. Kann das nicht warten?«
Dass er Selenes Blick mied, war vielsagend. »Man sagt diesen Besuchern nicht, dass sie warten sollen.«
»Vielleicht kann ich behilflich sein«, erklang eine Männerstimme aus dem Flur.
Ein vertrautes Gesicht, eines, das von einer schwarzen Augenbinde dominiert wurde, erschien. Es war Leeson, Archers unsterblicher Sekretär, und er schob einen Rollstuhl vor sich her. Sofort stellten sich Selenes Nackenhaare auf.
Sie und Leeson waren noch nie gut miteinander ausgekommen, und als sie seine umfängliche Sammlung von Groschenromanen bis auf den letzten verschlungen hatte, hatte sie es sich endgültig mit ihm verdorben.
Seit der Verbrennung der Bibliothek von Alexandria, einem zutiefst traumatischen Ereignis in ihrer Vergangenheit, litt sie an einem bizarren und buchstäblichen Appetit auf das geschriebene Wort. Einfach ausgedrückt: Sie erlag manchmal dem Verlangen, Bücher zu verspeisen.
Wenn Leeson beschloss, jetzt Rache zu üben, würde ihr gegenwärtiger verletzbarer Zustand sie gefährlich ins Hintertreffen bringen.
»Nun, sehen Sie mich nicht so an, meine Liebe«, murmelte er leise und spähte mit seinem gesunden Auge zu ihr herüber. Immer adrett gekleidet, trug er graue Hosen, ein weißes Hemd und eine golden und blau gestreifte Brokatweste. »Wir werden einander wieder verabscheuen, wenn all dies vorüber ist, aber lassen Sie uns für den Moment Waffenstillstand schließen.«
Was konnte sie schon tun, jetzt, da alle nach ihren Ellbogen griffen und ihr vom Bett aufhalfen? Elena bürstete ihr das Haar, glättete den Kragen ihrer kupferfarbenen Satinrobe und band sie mit einer breiten Samtschärpe an den Stuhl, bevor sie Leeson erlaubte, sie den Flur hinunter auf die breite, zentrale Treppe zuzurollen.
Ein großes gläsernes Oberlicht genau über dem Treppenabsatz offenbarte einen bewölkten Nachthimmel. Zwei stämmige Diener warteten. Sie hoben den Rollstuhl hoch und trugen sie zum Treppenabsatz im ersten Stockwerk, und nachdem sie für einen Moment innegehalten hatten, um sich zu erholen, gingen sie weiter zum Erdgeschoss, wo Archer es übernahm, den Stuhl zu rollen. Elena ging neben ihnen her.
Mehrere königliche Gefolgsleute und Leibwachen standen unter der Rotunde, was auf die Gegenwart der Königin schließen ließ. Sie wandten höflich den Blick ab, als Archer sie vorbeischob. Selenes Puls setzte aus. Warum sollte die Königin hier sein?
Sie gelangten in Archers Arbeitszimmer. In der Tat, die Königin stand am Schreibtisch, auf einen Gehstock gestützt, ein verblüffender Anblick in Schwarz. Sie trug eine weiße Spitzenhaube und Perlen um den Hals. Grauhaarig und streng sah sie Selene in die Augen und nickte. Ein schroffes Willkommen.
»Eure Majestät«, flüsterte Selene, deren Kehle wie zugeschnürt war, sodass sie kaum sprechen konnte.
Sie versuchte aufzustehen, aber Victoria bedeutete ihr mit einer Geste, sitzen zu bleiben.
Hinter der Königin umrahmten uralte, mit schwarzen und roten Lotusblüten bemalte Terrakottafliesen einen riesigen Kamin, der so groß war, dass ein Mann darin hätte stehen können. Holz knisterte, Flammen loderten. Sie verströmten eine Hitze, die sie mit einer beinahe unbehaglichen Intensität auf der Haut spürte.
Victoria nahm Platz und spähte erwartungsvoll in die Flammen.
Selenes Blut geriet in Wallung, als sie begriff. Archer rollte sie näher heran, positionierte ihren Rollstuhl aber in beträchtlicher Entfernung von der Königin. Die beiden Raben, Tres und Shrew, stellten sich unmittelbar hinter ihr auf. Archer selbst trat hinter die Königin.
Sie brauchte niemanden, der ihr erklärte, dass sie die Königin vor ihr
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