Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
»Also … Avenage. Was halten Sie von ihm?«
Selene wurde nachdenklich. Avenage war über die Ankündigung seiner neuen Pflicht als ihr Hüter offensichtlich nicht erfreut gewesen – nein, er war
fuchsteufelswild
gewesen. Er hielt sie wahrhaft eines Mordes für fähig.
»Sie haben seine Reaktion auf mich gesehen. Meine Tage auf Swarthwick werden eine Folter sein. Ein Gefängnis.«
»Er ist nicht der warmherzigste oder umgänglichste Mann.« Elena beugte sich vor und flüsterte nah an Selenes Ohr: »Aber andererseits war Archer das auch nicht. Nicht zu Anfang. Im Laufe der Zeit haben sich die Dinge verändert. Vielleicht wird der Rabenmeister, wenn man ihm einige Tage Zeit gibt, kein gar so schrecklicher Gefährte mehr sein, während Sie auf die Rückkehr Ihrer Fähigkeiten warten.«
Selene hoffte, dass sich das, was Elena andeutete, als zutreffend erweisen würde. Nur wenige Männer hatten die Fähigkeit, Selene sprachlos zu machen und ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Und doch hatte sich selbst inmitten des elenden Wortwechsels unten, wann immer Avenages grüne Augen in ihre Richtung gewandert waren, ein Gewicht von dem verdorrten Klumpen in der Mitte ihrer Brust gewälzt. Es war das schmutzige tote Ding, zu dem ihr Herz im Laufe der Jahrhunderte geworden war, um sich vor Verletzung zu schützen.
Irgendein instinktiver Teil von ihr reagierte auf ihn, in einer Weise, die sie nicht verstand. Trotz der zugegebenermaßen überwältigenden Beweise gegen sie machte die Vorstellung, dass er sie so gründlich hasste und sie solch unverzeihlicher Verbrechen für fähig hielt, sie ganz elend.
»Stellen Sie sich nur vor, wie viel Lektüre Sie nachholen können.« Elena lächelte hoffnungsvoll. »Sehen Sie sich an, was ich für Sie mitgebracht habe.«
Vom Nachttisch nahm sie ein glänzendes, in Leder gebundenes Buch.
Geschichten vom Amazonas.
»Sieht sehr fleischig aus«, antwortete Selene mit einem Gähnen.
Sie genoss Bücher und andere Publikationen auf die gleiche Weise, wie sie Süßigkeiten genoss: maßvoll. Sie war kein Vielfraß. Es erforderte schon eine besonders prächtige Ausgabe oder ein außerordentlich fesselndes Thema, um ihr Verlangen auszulösen. Andererseits konnte sie in Zeiten der Angst ein zehnbändiges Werk verzehren und hatte hinterher ein schrecklich schlechtes Gewissen.
Angesichts ihres gegenwärtigen Zustands der Erregung war es seltsam, dass sie überhaupt keinen Hunger hatte. Aber vielleicht war der erste Schritt zur Rückkehr zur Normalität der, auch zu ihren alten Gewohnheiten zurückzukehren.
Ohne den Kopf vom Kissen zu heben, nahm Selene das Buch in die Hand. Sie strich mit dem Finger über die glatten Seiten mit Goldschnitt und schlug den schweren Band auf der Matratze auf. Mit einem kleinen Seufzer ließ sie den Blick über das Inhaltsverzeichnis wandern.
»Sehr interessant.«
Sie riss einen langen Streifen vertikal von der ersten Seite ab, wickelte das Papier um den Finger und schob sich die Rolle in den Mund.
Geschmacklos. Enttäuschend.
»So ist es gut«, ermutigte Elena sie.
Selene nickte zur Antwort und schluckte.
Das Papier blieb ihr in der Kehle stecken.
Sie hustete und drückte sich von der Matratze hoch. Sie
würgte
.
»Selene?«
Als sie versuchte zu antworten, dass es ihr gut gehe, bekam sie kaum noch Luft. Archer schritt zur Kommode, wo er ein Glas Wasser aus einer Kristallkaraffe einschenkte. Während Selene um Atem rang, klopfte Elena ihr den Rücken. Archer drückte ihr das Glas in die Hände.
Sie hustete abermals, schluckte und bekam das Papier endlich herunter.
Elena sagte: »Vielleicht sollten Sie für den Moment damit warten, Bücher zu essen.«
»Ja, Frau Doktor«, schnarrte Selene und ließ sich auf die Matratze zurückfallen.
Zu ihrem Entsetzen stiegen ihr Tränen in die Augen.
Tränen.
Wie ihre Mutter Tränen verachtet hatte. Selbst am Ende, als Kleopatra vor Trauer über Marc Antonius’ Tod wahnsinnig geworden war, hatte die Königin keine Tränen vergossen.
Um ihre Gefühle vor Elena zu verbergen, wandte sich Selene ab und umarmte ihr Kissen. Sie starrte auf die Lotusblume. Sie schwamm auf dem gegenüberliegenden Nachttisch im Wasser, und die Blütenblätter hatten die gleiche Farbe wie der Himmel über dem Nil, wenn Zwielicht herrschte.
»Ich glaube, ich würde jetzt gern ein wenig schlafen.«
Selene saß allein in ihrem privaten Zugabteil erster Klasse und starrte aus dem Fenster. Der Zug schwankte unter ihr, obwohl er noch im Bahnhof stand,
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