Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
bereit, jeden Moment loszurollen. Archer und Elena standen auf einem erhöhten Teil des Bahnsteigs über einem Meer aus hüpfenden schwarzen Zylindern.
Wenn auch schmal und ziemlich eingegrenzt, was Platz betraf, war ihr vorübergehendes Quartier bequem genug. Die Bank, auf der sie saß, hatte gepolsterte Armlehnen und Brokatkissen. Direkt ihr gegenüber befand sich ein schmales Bett. Frische weiße Wäsche lugte unter einer golddurchwirkten Decke mit scharlachrotem Lilienmuster hervor. Eine Waschschüssel, Handtücher und Seife befanden sich auf einer zylindrischen Halterung. Sie hatten keine Zeit gehabt, all ihre Sachen aus dem
Metropol
holen zu lassen, dem Hotel, in dem sie während ihrer Jagd auf die Dunkle Braut residiert hatte. Sie reiste nur mit einem Koffer und dem Versprechen, dass mehr von ihrem Besitz nach Swarthwick geliefert werden würde. Elena hatte sie gewarnt, dass ihre Schwäche und die Verzögerung ihrer selbstheilenden Fähigkeit vielleicht erhalten bleiben würden und dass selbst Eigenschaften, die sie als selbstverständlich angesehen hatte, wie Gleichgewichtssinn, Beweglichkeit und Temperament, betroffen sein könnten.
Selbst mit Elenas Hilfe hatte es sie ihre ganze Energie gekostet, sich für die Reise anzukleiden und die Strecke von ihrem Zimmer im Haus Black zur Kutsche zu gehen und dann wieder von der Kutsche zum Zug. Archer hatte sie gestützt, bis er und Elena ihr nicht weiter folgen konnten. Dann war Avenage vorgetreten.
Stumm hatte er sie durch das dichte Gedränge auf dem Bahnsteig geführt und sie geschickt davor beschützt, über Gebühr angerempelt zu werden, bevor er ihr die Stufen hinauf und durch den Mittelgang in ihr privates Abteil geholfen hatte. Und dann hatte er sie verlassen.
Sie hatte Rätsel immer geliebt, und Avenage war gewiss ein Rätsel. Würde sie während ihrer Gefangenschaft auf seinem Besitz irgendwelche von seinen Geheimnissen aufdecken, oder würde sie binnen Tagen oder Wochen dort wieder aufbrechen und genauso wenig über ihn wissen, wie sie jetzt über ihn wusste?
Er war in seinem Verhalten nichts weniger als ritterlich gewesen, aber sein unausgesprochenes Misstrauen erhitzte ihr Gemüt wie eine unsichtbare Flamme. Vor nicht allzu langer Zeit, in den wenigen Stunden, die sie auf der Suche nach der Dunklen Braut miteinander verbracht hatten, hatte sie seinen Respekt genossen. Sie mochte unersättlich sein, was Herausforderungen betraf, aber sie wollte seinen Respekt zurückgewinnen.
Als er sie allein in dem Abteil ließ, hätte sie erleichtert sein sollen, aber sein Weggang machte sie merkwürdigerweise unruhig. Geistesabwesend. Um die Wahrheit zu gestehen, wollte sie nicht allein sein. Erst an diesem Morgen hatte sie ein Telegramm von ihrem Zwillingsbruder Mark erhalten, der über ihr Erwachen in Kenntnis gesetzt worden war. Er hatte ihr Worte der Ermutigung geschrieben und versprochen, bald nach England zurückzukehren. Obwohl die Nachricht sie getröstet hatte, hatte sie auch eine Wunde aufgerissen, die vielleicht niemals vollkommen verheilen würde. Als sie sich in jener Nacht im Uhrenturm geopfert hatte, um Marks Leben zu retten, waren sie beide für immer verändert worden. Obwohl sie durch ihre Blutsbande immer eine Familie sein würden, würde nichts jemals wieder so sein wie früher. Die Nachricht ihres Bruders war kurz gewesen, aber seine sorgfältig gewählten Worte hatten eine schwerwiegende Botschaft übermittelt. Elena hatte sie sanft erklärt und Selene geholfen zu verstehen, was sie zuvor nicht begriffen hatte: Mark war kein Mitglied der Schattenwächter mehr. Ihr Bruder hatte sich mit seiner Ehefrau Willomina zu einem neuen Abenteuer aufgemacht, der Gründung der sterblichen Atheatos-Gesellschaft.
Wenn sie jedoch zurückdachte an die schmerzliche Vergangenheit, die sie geteilt hatten, und an die Art, wie sie sich gemeinsam durch die Zeit gekämpft hatten, betrauerte sie seinen Verlust. Nicht an den Tod, aber an eine andere Art von Zukunft. An das Glück und ein Leben mit Willomina und die Kinder und Enkelkinder, die folgen würden. Sie konnte sich nicht für ihn freuen, und doch hatte sie sich niemals einsamer gefühlt.
Zu erschöpft, um ihre Handschuhe auszuziehen oder auch nur ihren Hut abzulegen, lehnte sie sich in die Kissen zurück und schloss die Augen …
Wo lag Swarthwick? Nördlich oder südlich von London? Sie war so behütet und geleitet worden, dass sie nicht in der Lage gewesen war, irgendwelche Wegweiser zu
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