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Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)

Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)

Titel: Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Lenox
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hinunterrennen. Wenn sie das tat, wäre es wie eine Anerkennung ihrer Niederlage – seiner Zurückweisung –, also blieb sie. Sie würde sich umschauen, nur zu ihm würde sie nicht hinsehen, und so ging sie zu dem nächsten Steinraben und spähte über die Mauer. Eine Nebelbank umgab die Festung. Die niedrigen Büsche und gezackten Felsvorsprünge boten keinen Schutz vor dem Meereswind. Jede Böe zerzauste ihr Haar und betäubte ihre Wangen. Mit den Fingerspitzen strich sie über die gefiederten Flügel des Raben. Die Zeit und der ewige Seewind hatten den Stein mit Pockennarben übersät, und die eingeritzten Kerben waren verwittert.
    Rourke bewegte sich, irgendetwas in der Ferne schien seine Aufmerksamkeit zu erregen.
    Sie folgte seiner Blickrichtung. Orangefarbene Lichtpunkte brannten wie Zunder auf der anderen Seite des Flusses, wo an diesem Nachmittag nichts anderes gewesen war als ein leeres Feld.
    Es ärgerte sie maßlos, dass sie ihre Sicht nicht verstärken und in der Dunkelheit sehen konnte. Sie betete, dass ihre Kräfte bald zurückkehrten, damit sie nicht gezwungen sein würde, sich auf irgendjemand anders als auf sich selbst zu verlassen.
    Zu neugierig, um still zu bleiben, fragte sie: »Was sehen Sie?«
    Er beugte sich vor und stemmte die Ellbogen auf die Steine. »Wagen.«
    »Zigeunerwagen?«
    »Es sind zu viele für eine Gruppe von Zigeunern.«
    Selenes Anspannung ließ ein wenig nach. Sie sprachen miteinander, wie sie es vorher getan hatten, wie zwei Schattenwächter, die Beobachtungen teilten. Vielleicht konnten sie beide die heutige Nacht vergessen und zu ihrem früheren kameradschaftlichen Verhältnis zurückkehren, abzüglich der hitzigen Anziehung der vergangenen Tage.
    »Was sind das Ihrer Meinung nach für Wagen?«
    »Ich werde es am Morgen herausfinden.«
    Er schaute sie an und schien zu versuchen, ihre Gedanken zu erforschen. Selene wusste, wie sie ihren Verstand uneinsehbar und undeutbar halten musste, und sie tat es jetzt. Sie würde nichts mehr von sich preisgeben.
    »Gute Nacht, Rourke.«
    Am nächsten Morgen stand Selene am offenen Fenster. Dunkle Flecken verschandelten das ferne Feld, die Spuren der Lagerfeuer aus der vergangenen Nacht, aber die Wagen waren fort, den Weg, den sie in Richtung Hauptstraße genommen hatten, bezeugten tiefe Furchen. Vielleicht hatte Rourke sich früh am Morgen auf den Weg gemacht, um der Sache auf den Grund zu gehen.
    Sie zog sich mit gewohnter Sorgfalt an und wählte heute ein Gewand, das aus blau-gelb gestreiftem Taft geschneidert war, mit einem Volant an der schmalen Taille. Dann öffnete sie ihre Schmuckschatulle und wählte einige Stücke aus. Ihr Blick fiel auf zwei elfenbeinerne Schriftrollenstäbe.
    Drei uralte Schriftrollen hatten eine wichtige Rolle bei dem Erwerb von Wissen gespielt, um gegen Jack the Ripper und die Dunkle Braut zu kämpfen. Bisweilen behielt sie Souvenirs von Vollstreckungen. Nichts Makaberes natürlich wie einen Schrumpfkopf oder eine Schnur mit Zähnen, aber weil die erste der drei Schriftrollen beinahe völlig zerfallen gewesen war, hatte sie die beiden kunstvoll geschnitzten Stäbe aus dem Wust von Fragmenten gelöst und behalten.
    Da sie geschickt in der Restaurierung von Dokumenten war, hatte sie die Papyri sorgfältig wiederhergestellt. Ihr Bruder hatte die uralten Inschriften übersetzt, sodass sie zusammen mit Lord Black die Prophezeiungen lesen konnten, die von Tantalos’ Absicht kündeten, dem Tartaros zu entkommen, und so hatten sie die nächsten Angriffe auf London und dessen Bürger vorhersehen können.
    Die Rollen hoben immer ihre Stimmung, einesteils wegen ihrer Schönheit – sie trug sie gern als Nadeln im Haar –, andernteils schienen sie sie auch mit mystischer Stärke zu erfüllen. Heute Morgen erinnerten sie sie daran, wer sie gewesen war, bevor sie ihre Kräfte verloren hatte – und wer sie wieder sein
würde
. Sie musste glauben, dass ihre Schattenwächterfähigkeiten bald zurückkehren würden. Ohne diese Hoffnung würde sie verzweifeln.
    Sie bürstete sich das Haar und teilte die Partien über ihren Ohren ab. Dann schlang sie die Strähnen mehrere Male auf dem Hinterkopf umeinander, stach die Stäbe hindurch und ließ sich den Rest des Haars lang über den Rücken fallen. Auf halbem Weg die Treppe hinunter hörte sie Stimmen in dem großen Raum, Rourkes und die eines anderen.
    Er stand am Fenster und hielt in einer Hand einen Umschlag und in der anderen ein ungefaltetes Pergament. Seine breiten

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