Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
ins Schloss.
Ihre Tür?
Sie drehte sich um und dachte daran, zurückzukehren … aber die dichte Wand aus Weiß hatte sich hinter ihr geschlossen. Ihre Gedanken rasten. Dies konnte nicht geschehen. Nichts von alldem ergab einen Sinn.
Sie drehte einen vorsichtigen Kreis auf der Treppe, so dicht von Nebel umhüllt, dass sie nicht weiter sehen konnte als eine Armeslänge.
Es ist nur ein Traum, sagte sie sich, ein unwirklicher, unsinniger Traum. Jeden Augenblick würde sie aufwachen.
Desorientiert von dem alles verschlingenden Weiß ertastete sie sich den Weg die Treppe hinauf. Sie schob sich an der Wand entlang und arbeitete sich auf diese Weise zu ihrem Zimmer zurück. Die ganze Zeit über rechnete sie damit, dass sich skeletthafte Klauen nach ihr ausstreckten und packten.
Nervös fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar und biss sich auf die Unterlippe. Irgendetwas hatte in der Tat ihre Tür geschlossen. Vorsichtig drehte sie den Knauf. Im Zimmer herrschte beinahe Dunkelheit. Nur ein wenig Mondlicht schimmerte durch die Vorhänge. Kein Nebel. Sie schaute über die Schulter.
Auch im Flur war der Nebel verschwunden.
Sie trat in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel im Schloss. Dann entzündete sie eine Lampe. Zitternd schlang sie die Arme um sich und wandte sich wieder dem Raum zu.
Die Mappe ihres Vaters lag mitten auf ihrem Bett. Und ringsum – überall auf dem Bett, auf dem Boden, auf ihrem Schreibtisch – lagen die zerfetzten Überreste seiner Papiere und Notizbücher. Den Schlüssel entdeckte sie inmitten der Zerstörung.
»Nimm deine Maske ab und lass mich dein Gesicht sehen«, befahl Mark.
Die schwarzen Löcher starrten ihn an, unergründlich und ohne zu blinzeln. »Noch nicht.«
»Wenn du mir nicht vertraust, warum bin ich dann hier? Was bringt dich auf die Idee, dass ich dir von Nutzen bin?«
»Du bist der mächtigste Brotos von allen. Der Bote.«
»Der Bote«, gurrten die Kriecher, ständig tief knicksend.
Eine Woge aus Abscheu erfasste Mark. Der Bote? Er war nicht der Bote. Jack the Ripper war der Bote gewesen, und als Archer ihn erschlagen hatte, war es das Ende dieser Dinge gewesen – oder doch nicht?
Er unterdrückte den Zorn in seiner Stimme. »Gab es einen anderen Boten vor mir?«
Unter dem Umhang zuckten die Schultern. »Wir sind nie sehr gut miteinander ausgekommen. Ich habe ihm mehrere Geschenke geschickt, die er nie zur Kenntnis genommen hat. Ich habe eines sogar tief im Herzen eines seiner Feinde begraben – ein Opfer, um die Bemühungen dieses Feinds gegen ihn zu vereiteln. Denkst du, er hätte es zu schätzen gewusst? Nein. Ich denke, ich werde dich viel lieber mögen.«
Inmitten der Jagd auf Jack hatte Selenes Themse-Mörder eine zerstückelte und kopflose weibliche Leiche, eingewickelt in den Stoff eines Kleids, unter dem Gebäude von New Scotland Yard abgelegt.
»Du dienst … Tantalos.«
Allein das Aussprechen des Namens bescherte ihm einen sauren Geschmack im Mund.
Unter dem Umhang strafften sich ihre Schultern. »Du und ich, wir werden ihm gemeinsam dienen. Jedes Opfer bereitet den Fluss für seine Ankunft vor.«
Mark gerann das Blut in den Adern. Tantalos‘ Ankunft.
»Aber es muss weitere Opfer geben. So viele weitere. Ich brauche dich, mein Lieber. Unsere Kriecher und ich können nicht alles allein erledigen.« Ihre Stimme wurde kühler. »Doch ich spüre dein Widerstreben, dich mir anzuschließen. Wirklich, Liebster, du lässt mir keine Wahl.«
Mark hasste es, zu fragen. »In welcher Hinsicht?«
Aus den Tiefen ihres Umhangs förderte sie eine weiße Blase hervor, ungefähr so groß wie ein Totenschädel und gefüllt mit braun-gelber Flüssigkeit.
Sie wirbelte herum und wich auf der Betonwand zwischen den Wasserbecken vor ihm zurück. Die Kriecher fielen zurück. Mark folgte ihr zwischen die beiden nächsten Wasserreservoirs.
»Dunkle Braut.« Wirklich, wie sonst sollte er sie nennen? »Was hast du da in der Hand?«
»Weißt du, wie diese Anlage funktioniert?«
Er antwortete ihr nicht, sondern folgte ihr einfach. Hörte zu. Beobachtete.
Sie bewegte sich schnell, drehte sich wieder zu ihm um, lief aber rückwärts weiter, ohne jede Schwierigkeit, auf der schmalen Trennwand das Gleichgewicht zu wahren. »Das Wasser der Themse läuft in die Becken und fließt durch eine Reihe von Filtern.« Sie hob eine Hand und dozierte in dem angenehmen Ton eines Museumsführers. »In dem ersten Becken ist Schotter. Wasser sinkt durch den
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