Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
noch eine Spur bleicher.
»Ich brauche kein Zimmer«, sagte Archer. »Aber ich würde mir gern eins ansehen. Und zwar das Zimmer im zweiten Stockwerk, direkt über uns.«
Der Adamsapfel des Mannes hüpfte sprunghaft auf und ab. »Tut mir leid. Nein. Das Zimmer ist vermietet.«
»Dann möchte ich mit dem Mieter sprechen.«
Der Hauswirt blaffte ängstlich: »Ich sagte vermietet, Mann, nicht, dass jemand da ist. Er ist nicht hier, aber er benutzt das Zimmer regelmäßig.«
»Wie ist sein Name?«
»Ich wüsste nicht, warum ich Ihnen das sagen sollte.« Sein Blick wanderte abschätzend über Archers Statur. »Sie sind nicht von Scotland Yard – ihr Mantel ist zu fein. Was machen Sie zu dieser späten Stunde in diesem Teil der Stadt? Brauchen Sie so dringend ein Mädchen? Ich kann Ihnen ein Mädchen besorgen, wenn es das ist, was Sie wollen.«
»Sein Name.« Archer warf eine Münze hoch.
Der Mann fing die Krone mitten in der Luft auf.
Er atmete unregelmäßig und schaute über die Schulter in die Dunkelheit des Raums hinter sich. In seinen Augen spiegelten sich abwechselnd Furcht und Habgier. Die Habgier gewann sichtlich die Oberhand.
Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Ich kenne seinen Namen nicht, und ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. Er legt den doppelten Preis in die Kasse an der Wand, und er kommt und geht, wie es ihm gefällt.«
»Ich werde einen Blick in das Zimmer werfen.«
»Vergessen Sie es.« Sein Informant schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Er ist mein bester Mieter. Zahlt pünktlich und macht keinen Ärger.«
Archer konnte sich natürlich in Schatten verwandeln und einfach die Wand hinaufsteigen, aber manchmal boten Sterbliche – vor allem eingeschüchterte – die hervorragendsten Informationen. Dieser Sterbliche schien in doppelter Hinsicht verängstigt zu sein. Archer warf eine zweite Münze hoch. Wieder schnappte die schmutzige Hand zu.
»Also schön, hier entlang. Beeilen Sie sich.«
Archer duckte sich unter dem Türrahmen hindurch, und nachdem er die Tür geschlossen hatte, folgte er dem Hauswirt in den schwarzen Schacht einer schmalen, knarrenden Treppe. Ein alter Mann schlief auf einer Pritsche auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks, eine Ratte hockte neben seinen Füßen. Sie stiegen über ihn hinweg, um die nächste Treppe hinaufzugehen.
Im zweiten Stock verkündete der Hauswirt: »Da wären wir.«
Er zog einen Haken mit Schlüsseln aus seiner Gürtelschlaufe und stieß mit einem metallischen Klirren einen davon in das zerkratzte Schlüsselloch. Als die Tür knarrend nach innen aufschwang, legte Archer dem Hauswirt eine Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück, als er vorbeiging.
»Ich werde nicht lange brauchen.«
»Also, hören Sie …!«
Archer schloss die Tür – aber nicht, bevor er ein Bild aus dem Gedächtnis des Mannes geholt hatte. Kein schwieriges Unterfangen, da die Erinnerung an den namenlosen Mieter ganz vorn in seinem Geist war. Wieder war alles, was Archer sah, genauso, wie er es im Gedächtnis der Prostituierten Kate gesehen hatte: Augen. Kalte, leere Augen.
Hände rüttelten und drehten am Knauf, aber das Schloss, das Archer kraft seiner Gedanken davorgehängt hatte, trotzte jedem Schlüssel und jeder Gewaltanwendung. Während er in der Dunkelheit stand, musterte er den schmalen Raum. Kühler, feuchter Wind wehte durch ein offenes Fenster und trug den fauligen Gestank der Straße herein. Überall um ihn herum waren wacklige Zeitungsstapel aufgehäuft, einige beinahe so hoch wie seine Schultern. Er berührte einige Stapel und stellte fest, dass sie durch und durch feucht waren, als hätte man die Fenster während der jüngsten Regenfälle tagelang offen gelassen.
Ein schäbiger Schreibtisch beherrschte den Platz unter dem Fenster. Seine Oberfläche glänzte feucht, ebenso wie der leicht aufgeworfene Holzboden. Ein schmales Bett stand an der angrenzenden Wand, die Wolldecke darauf adrett gefaltet.
Jämmerliches Schluchzen drang aus dem Stockwerk über ihm, und im Nebenzimmer fluchte ein Mann voller Zorn. Es gab so viel Elend hier – dünne Wände, Kummer und Wahnsinn. Nie zuvor hatte er eine solch intensive Konzentration menschlichen Leids erlebt.
Das war der Grund, warum der Ripper in der letzten Nacht nach den Morden an Liz Stride und Kate Kelly so unauffindbar verschwunden war. Bestimmt hatte der Ripper dieses Haus gewählt, weil er sich von solchem Leid nährte, und so hatte er ein fast perfektes Versteck vor den Schattenwächtern
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