Shadow Killer - Und niemand hoert deinen Schrei
als sie neben Diego lief, der ihre Schwester trug. Sie atmete tief ein und erinnerte sich daran, dass sie noch vor einer Stunde überzeugt war, keiner von ihnen käme lebend aus dem Verlies heraus. Inzwischen hatte sie gelernt, dass es immer Grund zur Hoffnung gab.
Sie lief neben Diego her, der Dani so vorsichtig in seinen Armen hielt, als wäre sie aus Glas. Gleichzeitig sprach er leise beruhigend auf das Mädchen ein, und auch wenn Becca die Worte nicht verstand, klang sein spanischer Akzent wie eine wunderbare Melodie, die man auch noch in seinem Herzen hört, lange nachdem sie verklungen ist.
»Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit, Schätzchen. Was für ein mutiges Mädchen du doch bist«, murmelte er sanft. »Rebecca hat dich niemals aufgegeben, Danielle. Sie hat nie die Hoffnung aufgegeben, dass sie dich noch findet.«
»Momma?«, wimmerte sie derart leiste, dass nur Diego sie verstand, klammerte sich hilfesuchend an ihm fest und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Er legte sein Kinn auf ihren Kopf und schlang ihr die Arme noch ein wenig fester um den dürren Leib.
»Momma kommt zu dir ins Krankenhaus«, versprach er ihr. »Deine Schwester und ich holen sie auf dem Weg dorthin ab, mein Schatz.«
Als sie zum Krankenwagen kamen, legte er Danielle vorsichtig auf eine Trage und hüllte sie von Kopf bis Fuß in warme Decken ein. Die Sanitäter wollten sofort mit ihr los, doch er winkte sie zur Seite, damit Becca einen Augenblick mit ihr alleine sein konnte.
Obwohl die Schwellungen und Schürfwunden in seinem Gesicht im Licht der Lampen schillerten, blickte er über seine Schulter und sah sie lächelnd an. Becca formte mit dem Mund ein stummes ›Danke‹, doch sie wusste, es wäre niemals genug. Dann umfasste sie Danis Gesicht, küsste sie zärtlich auf die Stirn und sog das Gefühl und den Geruch von ihrer Haut tief in ihre Lungen ein.
»Ich werde mich erst mal um dich kümmern, kleine Schwester. Und zwar, solange du es mir erlaubst«, flüsterte sie ihr zu. Dani nickte, während eine Träne über ihre Wange kullerte, und umklammerte dankbar ihre Hand.
Dann wandte sich Becca an den Lieutenant, drückte ihm den Arm, während ihre Augen sich mit Tränen füllten, reckte das Kinn und sah Mike Draper an.
»Mr. Draper? Ich möchte Ihnen eine Überlebende vorstellen. Meine Schwester. Danielle Montgomery.«
19
Santa Rosa Hospital
Der nächste Morgen, 6.30 Uhr
Mit wild klopfendem Herzen fuhr Becca aus dem Schlaf. Undeutlich nahm sie ihre Umgebung wahr: Danielles Krankenzimmer und den unbequemen Stuhl, auf dem sie eingeschlafen war. Gleichzeitig war sie noch in der Grauzone zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen, und vor ihrem geistigen Auge liefen die Ereignisse der Nacht wie in einem Stummfilm ab.
Sie hatte zum ersten Mal getötet.
Sie kniff die Augen zusammen, atmete möglichst langsam aus und ein, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass sie statt in dem Krankenzimmer plötzlich wieder in der dunklen Lagerhalle war.
Sie trieb zwischen verschwommenen Schatten und war wieder alleine in der Dunkelheit. Das gleichmäßige Pochen ihres Herzens war das einzige Geräusch, das an ihre Ohren drang. Der abgestandene Geruch der Luft in dem Verlies verdrängte den Geruch des Hospitals, als Zeit und Ort verschmolzen und sie plötzlich wieder … Brogan gegenüberstand.
In der Nacht war alles furchtbar schnell gegangen. Jetzt aber gingen ihr die Dinge ein uns andere Mal in quälender Zeitlupe durch den Kopf. Jede noch so kleine Kleinigkeit brannte sich dauerhaft in ihr Gehirn. Wieder sah sie sein Gesicht. Konnte ihn sogar riechen, als er auf sie zugetaumelt kam.
Die Neun-Millimeter-Glock riss ihr zweimal die Arme hoch. Sie hatte zweimal abgedrückt und konnte jetzt noch spüren, wie ihre Finger kribbelten und ein Gefühl der Taubheit durch die Arme bis in ihre Schultern kroch. Schüsse hallten, und das geisterhafte Echo rief ein schmerzhaftes Klingeln in ihren Ohren wach.
Nachdem die Kugeln seine Brust durchdrungen hatte, taumelte Brogan rückwärts, bevor er auf die Knie fiel und sein Kinn auf seinen Oberkörper sank. In einem letzten Kraftakt riss er seinen Kopf noch einmal hoch und starrte sie böse an. Das alte Feuer der Verachtung, das in seinen Augen brannte, war noch nicht erloschen. Becca hielt den Atem und wartete furchtsam darauf, dass er endlich ein letztes Mal nach Luft rang und vornüber sank. Wie eine Faust aus Eisen umklammerte die Angst ihr Herz, dass er doch noch einmal auf die Beine käme
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