Shadow Killer - Und niemand hoert deinen Schrei
Votivkerzen fiel auf Erinnerungsstücke und Fotos der verschwundenen jungen Frau.
Die Familie hatte Isabel in den Stand einer Heiligen erhoben. Das konnte Becca gut verstehen. Im Tod waren die Fehler des Opfers vergeben und vergessen, das wusste sie.
Der Priester merkte, dass ihr Blick auf den Schrein gefallen war.
»Meine Mutter sagt, dass die ständige Erinnerung ihr hilft.« Er stieß einen leisen Seufzer aus.
»Aber Sie glauben das nicht.«
Er zuckte mit den Schultern. »Weshalb sind Sie hier, Detective?«
Bevor Becca ihm eine Antwort geben konnte, betrat eine ältere Frau den Raum. Sie trug ein blaues Hauskleid und eine verblichene grüne Schürze und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Hortense Marquez war klein und gertenschlank, sie sah aus, als hätte sie geweint. In ihren Augen lag ein feuchter Glanz, und unter dem gelben Tuch, das sie sich um den Kopf geschlungen hatte, lugten ein paar graue Haarsträhnen hervor. Die Trauer hatte sich ihr ins Gesicht gegraben, sie sah deutlich älter aus, als sie tatsächlich war.
Trotz des Hoffnungszeichens, das sie in ihrem Wohnzimmer errichtet hatte, drückte ihr Blick Verzweiflung aus.
Becca kannte diesen Blick nur allzu gut.
»Dies ist meine Mutter. Bitte entschuldigen Sie uns.«
Nachdem sie ein paar Worte auf Spanisch mit dem Priester gewechselt hatte, zwang sich die Frau zu einem Lächeln und einem kurzen Nicken und zog sich wieder aus dem Wohnzimmer zurück. Nicht aber, bevor sie Becca mit einem letzten Blick bedacht hatte, demselben Blick wie ihre eigene Mutter, als die Polizei zu ihr gekommen war. Becca konnte kaum Spanisch, doch Worte waren auch nicht erforderlich. Für die Dinge, die im Leben wirklich wichtig waren, galten Sprachbarrieren nicht.
Als sie wieder alleine waren, bedeutete der Priester ihr schweigend, sich zu setzen, und sie nahm auf einem grünen, geblümten Zweisitzer mit ausgefransten Lehnen Platz.
»Gibt es einen Grund dafür, dass Sie ihr nicht gesagt haben, dass ich Polizistin bin?«
»Ihr Englisch ist nicht besonders gut, und es hätte keinen Sinn gemacht, sie zu erschrecken, solange ich nicht irgendetwas … sicher weiß.« Vater Victor nahm ihr gegenüber auf einem altersschwachen Holzstuhl Platz.
»Ich stelle Nachforschungen über das Verschwinden Ihrer Schwester an.«
Bevor sie weitersprechen konnte, fiel der Priester ihr ins Wort. »Nachforschungen? Sie ist seit beinahe sieben Jahren weg. Warum hat die Polizei plötzlich wieder Interesse an dem Fall?«
Seine argwöhnisch zusammengekniffenen Augen machten deutlich, dass er jetzt nicht mehr der Priester, sondern vor allem der Bruder war und deshalb die Geduld und Großmut, die für seinen Berufsstand typisch waren, kurzfristig vergaß.
»Ich weiß, wie schwer das für Sie ist, aber …«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fauchte er sie an, als er ihr jedoch wieder in die Augen blickte, brach er plötzlich ab. »Ich nehme an, Sie haben oft mit Familien wie der unseren zu tun.«
»Das ist leider wahr, aber es ist nicht dasselbe, wenn man es selbst durchmachen muss.« Becca sah ihn an. Sie wollte aufhören, wollte nicht weitersprechen. Vielleicht lag es an seinem weißen Kragen. Oder vielleicht daran, dass sie sich selbst in ihm wie in einem Spiegel sah. »Meine kleine Schwester Danielle. Sie wurde entführt … und umgebracht. Ihre Leiche wurde nie gefunden.«
Der Priester starrte sie ungläubig an.
Schweigend saßen sie einander gegenüber, wobei die Stille seltsam tröstlich für sie war. Becca wandte sich ab, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich von seinem Schrecken zu erholen. Vielleicht brauchte auch sie selbst die Zeit.
Schließlich sah sie wieder auf und nahm Tränen in den Augen des Priesters war. Sein plötzliches Mitgefühl kam völlig überraschend, sie zuckte zusammen, als er ihre Hand ergriff.
Schon lange hatte sie niemand mehr berührt.
»Aber wenn ihre Leiche nie gefunden wurde, wie können Sie dann sicher sein, dass sie nicht mehr lebt?«
Wie können Sie dann sicher sein? Seine Worte riefen die alte Flut von Zweifeln in ihr wach. Sie hatte Danis Tod nie wirklich akzeptiert. Auch wenn sie es behauptete, hatte sie nie wirklich daran geglaubt. Nicht, solange der Leichnam nicht gefunden war. Trotzdem richtete sie sofort die alte Mauer um sich auf. Sie hatte das Gefühl, als ob sich das winzig kleine Wohnzimmer um sie herum zusammenzog, und zog zähneknirschend ihre Hand zurück. Mit dem Mitleid dieses Mannes kam sie einfach nicht
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