Shadow Killer - Und niemand hoert deinen Schrei
nahe, und ich fürchte, wenn Sie ihm erzählen, was Sie vielleicht herausgefunden haben, bricht ihm das das Herz. Können Sie das verstehen, Detective Montgomery? Ich versuche lediglich meine Familie zu beschützen. Das, was von ihr übrig ist.«
Becca hielt ihm eine ihrer Visitenkarten hin.
»Wann wäre ein günstiger Zeitpunkt, um mit Ihrem Bruder zu sprechen?«
»Ich bringe ihn nach der Arbeit auf die Wache. Gegen sechs, falls das nicht zu spät ist.«
»Sechs ist gut. Fragen Sie sich einfach zu mir durch.« Becca wollte ihn auf ihrer Seite haben, deshalb fügte sie hinzu: »Sie möchten doch, dass diese Sache endlich für Ihre Familie abgeschlossen wird, nicht wahr, Vater?«
Er nickte, ohne aufzusehen.
»Dann helfen Sie mir bitte.« Sie beugte sich ein wenig zu dem Priester vor und hätte ihn am liebsten sanft am Arm berührt, hielt sich aber zurück. »Es ist sicher hart für Sie, nicht hier zu leben.«
Er verzog schmerzlich das Gesicht. Noch einmal hatte sich das Gespräch persönlichen Themen zugewandt.
»Gestern war der Geburtstag meiner Schwester. Deshalb bin ich hier.« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, sondern starrte stattdessen wie gebannt auf die flackernden Kerzen vor dem Schrein. »Wir feiern ihren Geburtstag immer noch. Meine Mutter packt sogar Geschenke ein und hebt sie alle für den Tag auf, an dem Isabel …« Er legte die Finger beider Hände gegeneinander, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und machte die Augen zu. »Es war für uns alle hart. Deshalb habe ich heute Morgen meinen Bruder zur Arbeit gefahren und bin dann hierher zurückgekehrt, damit meine Mutter nicht alleine ist.«
Danielles Geburtstag wäre erst in ein paar Monaten. Becca fragte sich, wie sie und ihre Mutter diesen besonderen Tag begehen würden, und hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Dann aber ging sie noch einmal in Gedanken Vater Victors Worte durch, und sie wollte von ihm wissen: »Nur aus Neugier, Vater, was für einer Arbeit geht Ihr Bruder nach?«
»Er ist Maurer und arbeitet für verschiedene kleine Unternehmen. Die Bauindustrie in San Antonio ist ziemlich gesund. Er kommt also zurecht.«
»Diese Typen arbeiten ganz schön hart, außerdem hat er doch sicher einen ziemlich langen Tag. Wie sehen denn seine normalen Arbeitszeiten aus?«
»Um diese Jahreszeit arbeitet er von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.«
Wenn Rudy den ganzen Tag, und dann noch ohne seinen Truck, auf einer Baustelle verbracht hatte, wen hatte sie dann am späten Vormittag vor dem Imperial gesehen? Hatte Victor in Bezug auf Rudys Arbeitszeiten die Wahrheit gesagt, oder hatte er den kleinen Bruder wieder mal beschützt?
Die beiden Brüder sahen sich so ähnlich, dass der Mann vor dem Theater vielleicht gar nicht Rudy gewesen war. Vielleicht hatten ja die Angaben der Kraftfahrzeugbehörde einen falschen Verdacht in ihr geweckt. Sie erinnerte sich daran, dass der Mann, der neben dem Truck gestanden hatte, mit einer abgewetzten Jeans, einem Sweatshirt und einer Jacke bekleidet gewesen war. Einen weißen Priesterkragen hatte er eindeutig nicht gehabt.
Wieder wogten Zweifel in ihr auf.
Welchen der beiden Brüder hatte sie vor dem Imperial gesehen?
»Nun, ich will Sie nicht länger aufhalten, Vater.« Sie stand entschlossen auf. »Je eher wir die Dinge klären können, umso besser. Vielleicht finden Sie und ich ja die Antworten auf unsere Fragen und bringen Ihre Schwester endlich heim.«
»Vielleicht bleiben ein paar Fragen besser unbeantwortet.« Bevor sie etwas erwidern konnte, geleitete er sie schon an die Tür. »Bis morgen, Detective.«
Becca ging den kurzen Weg zum Tor. Sie spürte Victors Blick in ihrem Rücken, widerstand aber dem Drang, sich noch einmal umzudrehen.
Ihr ging es einzig darum, ein abscheuliches Verbrechen aufzuklären, aber das Gespräch mit Vater Victor hatte ihr gezeigt, dass sie dazu mehr über Isabel und Rudy in Erfahrung bringen musste – was jedoch, da deren Bruder ihr nicht alles sagte, was er wusste, alles andere als einfach war.
Die Begegnung mit dem Priester hatte jede Menge neuer Fragen aufgeworfen und ihre Ermittlungen in eine völlig neue Bahn gelenkt.
Passeo del Rio (Riverwalk)
Innenstadt San Antonio
Ohne auf den abgestandenen Geschmack zu achten, trank Becca einen Schluck lauwarmes Bier und starrte auf den Riverwalk, den hübschen Weg am Fluss, der direkt gegenüber ihrer kleinen Wohnung lag. Ihre Augen sahen jede Einzelheit, ihr Hirn aber nahm nicht das Geringste wahr. Der Besuch
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