Shadow Killer - Und niemand hoert deinen Schrei
Trainings, das eher eine Selbstbestrafung als eine Fitnessübung gewesen war, taten ihr die Muskeln zwischen ihren Schulterblättern und die Oberschenkel weh. Sie holte sich ein frisches Bier, öffnete, wie jeden Abend vor dem Schlafengehen, das Fenster, hinter dem die Feuerleiter lag, kletterte mit der kalten Flasche in der Hand hinaus und bekam, wie jedes Mal, wenn ihre Füße auf den kalten Boden trafen, eine Gänsehaut.
Eilig stieg sie die paar Stufen der Feuerleiter hinauf und schwang sich über die Brüstung ihres Dachgartens, einer Oase, die sie pflegte, damit sie nicht vollends den Verstand verlor. Statt jedoch wie sonst die festlich weiße Lichterkette anzuschalten, die in ihrem kleinen Garten hing, zog sie sich im Schutz der Dunkelheit einen Liegestuhl heran, stützte sich mit beiden Ellenbogen auf der Mauer ab und blickte auf den Fluss hinunter.
Schließlich trank sie einen Schluck von ihrem Bier, spürte der Kälte des Getränkes nach, als es durch ihre Kehle rann, klappte die Augen zu und horchte auf die Geräusche der Stadt.
Mit der kühlen Brise wehten die Aromen des Flusses, der erdige Geruch abgestandenen Wassers und die Düfte der Fajitas aus dem Casa Rio Restaurant zu ihr herauf. Sie schlug die Augen wieder auf und blickte abermals auf den gewundenen Fluss hinab. Um diese Zeit schimmerten unzählige Lichter auf dem Wasser und warfen die dramatischen Silhouetten der Zypressen am Flussufer zurück.
In einem nahe gelegenen Club verkündete eine Stimme über Mikrophon, dass man die letzte Runde bestellen konnte, die Jazzband stimmte die letzte kurze Weise an. Sie hatte das Stück bereits des Öfteren gehört und lauschte versonnen, während sie die Zeit wie Sand durch ihre Finger rinnen ließ.
Als sie jedoch ihren Blick in die Richtung wandern ließ, aus der die Musik erklang, riss sie verblüfft die Augen auf. Ein einsamer Mann stand auf einer Steinbrücke über dem Fluss, die Silhouette seines Körpers hob sich überdeutlich von dem Licht einer Laterne ab. Becca reckte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen.
Sicher spielte ihr Gehirn ihr einen Streich.
Sie bildete sich allen Ernstes ein, sie hätte Diego Galvans hübsches Gesicht erkannt.
»Also bitte, Beck. Das ist er nie im Leben«, murmelte sie erbost.
Wenn sie mitten in der Nacht auf ihrem Aussichtsposten saß, konzentrierte sie sich meistens auf die Fußgänger, die man um diese Zeit noch sah. Dieser Mann jedoch stand völlig reglos, beinahe wie eine Statue. Er schien mit der Brücke zu verschmelzen, als wäre er ein Teil des Steins. Fast hätte sie ihn übersehen.
Plötzlich trat er einen Schritt nach vorn.
Er hielt etwas in der Hand, hob es schwungvoll vor sein Gesicht, und obwohl seine Züge immer noch im Dunkeln lagen, sah sie, dass er einen Gegenstand ins Wasser warf.
In der Hoffnung zu erkennen, was er fortgeworfen hatte, beugte sie sich ein wenig weiter vor. Es schien ein leichter Gegenstand zu sein, denn er wippte auf der Wasseroberfläche, statt dass er im Fluss versank. Irgendetwas Weißes, das die langsame Strömung des Flusses mit sich zog. Als es im Licht einer Lampe an ihrem Aussichtsposten vorübertrieb, erkannte sie endlich, was es war.
Eine einzelne weiße Rose.
Die Blume wippte auf dem Wasser. Schwache Wellen bildeten sich auf der Oberfläche und dehnten sich mit jeder Bewegung der Rose kräuselnd weiter aus. Becca runzelte die Stirn und blickte durch die Dunkelheit dorthin, wo der Mann gestanden hatte.
Nichts.
Sie stand auf, beugte sich über die Mauer und starrte angestrengt zwischen den Bäumen hindurch.
Flussaufwärts und flussabwärts.
Er war nirgendwo zu sehen. Er war nicht mehr da.
Wie konnte er so schnell verschwinden? Mist!
Beccas Herz fing an zu rasen, und ihr wurde siedend heiß. Sie starrte weiter in die Dunkelheit, gab am Ende aber zähneknirschend auf und schlang sich zum Schutz vor der kühlen, nächtlichen Brise die Arme um den Bauch. Während der Wind die Blätter der Bäume in ihrem Garten rascheln ließ, dachte sie an Diegos straffe Lippen, seinen ausgeprägten Kiefer, die sanfte Berührung seiner großen Hände, als er ihr den Fleck vom Kinn gewischt hatte, und vor allem an die dunklen Augen, in denen sie regelrecht versunken war.
»Vergiss ihn, Beck«, schalt sie sich streng. »Der Mann macht dir nur Scherereien.«
Sie hatte sich ganz bestimmt nur eingebildet, dass er der Fremde auf der Steinbrücke war. Woran neben den beiden Corona, die sie getrunken hatte,
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