Shadow Touch
mit Stücken von ihr selbst, mit ihrem Mitleid, ihrem Willen, sie spornte ihn an zusammenzuwachsen, zu heilen, zu träumen, ganz ohne Schmerzen. Blind und zu kraftlos, um aufrecht zu sitzen, beugte sie sich vor und bettete den Kopf auf die warme Brust des Mannes.
Werde gesund, bat sie ihn und spähte in das weiße Licht seines Geistes. Sie sah die Brüche, die haarfeinen Risse, die winzigen Erdbeben in seinem Geist. Sie konnte sich nicht vorstellen, was solche Verletzungen verursacht hatte. Sie wirkten alt, tief eingewurzelt. Zögernd, instinktiv griff Elena in das Licht, berührte die Wunden, streichelte sie, fügte sie zusammen ...
Schmutz, er hasst den Schmutz in diesem Raum, wie viele in den einen Eimer scheißen müssen, der schon viel zu voll ist, die Ecke des Raumes stinkt nach Urin und Kot, und schlimmer noch, viel schlimmer, die Kleinen hungern und glauben, es könnte gut schmecken ...
Nein! Elena, zog sich von der Erinnerung zurück, ging zum nächsten Riss - ein sonniger Raum mit blauen Wänden, ein weiches Bett, und ein weicher Körper, der sich an die blasse Haut schmiegt, Flüstern: »Ich liebe dich, Tatyana, ich liebe ...« Sie heilte auch diesen Bruch und faltete ihn zusammen.
Daneben gleich der nächste -feuchte Gasse mit jemandem auf dem Boden, eine Pistole an der Schläfe, die Mündung ist kalt und hart, der Preis für Verrat und Leichen obendrein, Kämpfe, eine Glühbirne, die wie ein Pendel schwingt, irgendwo jemand, der flüstert: »Es ist so weit, ich werde dich umbringen ...«
Elena fühlte, wie jemand ihren Körper berührte, ihre Wange. Erst glaubte sie, es wäre Rictor, aber dann flüsterte eine tiefe Stimme: »Nein, tun Sie das nicht. Bitte.«
Der Russe. Sein Akzent war stärker als vorhin. Sie konnte jedoch nicht antworten, dafür hatte sie zu große Schmerzen. Wenn sie den Mund öffnete, würde sie schreien, und sie würde dem ruhigen Mann, nicht einmal Rictor, diese Genugtuung bereiten.
»Sie verletzen sich selbst«, sagte der Mann. »Hören Sie auf. Es geht mir schon besser.«
Nein, es ging ihm nicht besser. Er war bei Bewusstsein, konnte sprechen, aber nur, weil die Schwellung abgeklungen war, die Blutung aufgehört hatte. Was Elena vermochte, trotzte jeder Wissenschaft. Das akzeptierte sie, hatte schon vor langer Zeit aufgehört, eine Erklärung dafür zu suchen. Aber es bedeutete auch, dass sie für jeden physischen Makel extrem empfänglich war, für jede Schwäche. Sein Hirn litt immer noch. Solange sie nicht die Heilung eines jeden Risses ermutigte, wäre alles, was sie jetzt für ihn tat, nur vorläufig. Dann könnte er noch heute Abend im Schlaf sterben, oder vielleicht zwanzig Jahre weiterleben und einen Schlaganfall bekommen.
Ich kann nicht aufhören, antwortete sie und tat, als könnte er sie hören. Wenn ich aufhöre, sterben Sie.
Das Licht in seinem Geist flackerte. Es geht Ihnen nicht gut, das fühle ich. Tun Sie sich nicht meinetwegen weh.
Der Klang seiner Stimme in ihren Gedanken erschreckte sie so sehr, dass sie beinahe den Kontakt abgebrochen hätte. Sie haben mich gehört! Ich ... Ist das denn wahr? Wie kann das sein?
Das weiß ich nicht. Er klang müde. Bitte, hören Sie auf!
Ich werde Sie nicht einfach sterben lassen. Elena griff nach einem weiteren Riss, aus dem Schatten quollen.
Es gibt zu viele davon. Niemand sollte es sehen. Und Sie kenne ich nicht einmal.
Fremde im Paradies, flüsterte sie. Bitte, wir müssen uns beeilen.
Er erwiderte nichts, aber sie spürte seine Einwilligung wie ein Seufzen in ihrem Herzen. Sie berührte den Riss. Bilder schossen ihr durch den Kopf, ein Kaleidoskop von Schmerzen, durchsetzt von kurzen Fragmenten des Glücks, eine ältere Frau, die ihre Arme ausbreitete, eine entzückend ramponierte Küche, in der es nach warmem Brot und Gebäck roch, dann jedoch wurden sie von einer finsteren Institution einfach weggefegt, wo es nur Braun, Grau und die weißen, sonnenhungrigen Gesichter von hageren Jungen gab, die sich in kalten Räumen zusammenkauerten und von der Leere lebten.
Was ist das für ein Ort? Elena versuchte, nicht zu tief in die Erinnerungen zu blicken, während sie arbeitete.
Ein Waisenhaus in der Nähe von Moskau. Ich wurde mit zwölf Jahren dort hineingesteckt.
Um zu sterben. Der Gedanke schoss ihr unwillkürlich durch den Kopf, und sie schämte sich.
Nein, widersprach die Stimme in ihrem Kopf ruhig. Für die Wahrheit muss man sich nicht schämen. Meine Mutter hat mich verlassen.
Wie konnte sie das tun?
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