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Shadow Touch

Titel: Shadow Touch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Kontakt auch aussehen mochte.
    Der Russe war jedoch nicht allein. Eine Stimme flüsterte in Elenas Kopf: der Stille, es sind immer die Stillen, die dich umbringen. Sie hatte keine Ahnung, warum sie eine solche körperliche Abneigung gegen den Mann mit dem braunen Haar und den grünen Augen empfand, diesen ruhigen Mann mit dem kalten, unbeteiligten Blick, der ihren Geist auf einen dunklen Platz zu saugen schien, an einen leeren, Furcht einflößenden Ort. Der stille Mann löste dieselbe Phobie in ihr aus, wie eine Schlange oder eine Spinne es getan hätte. Eine unerklärliche, mysteriöse Furcht.
    Und seine Stimme - diese Stimme passte überhaupt nicht zu seinem Äußeren. Wenn er sprach - Sie müssen neu hier sein ... das Blut gefällt mir-, glaubte sie, einen Redner zu hören, einen ausgebildeten Erzähler, einen Experten für klingende Vokale.
    Gefährlich. Das ist der gefährlichste Mann, dem du je begegnet bist. Sie kam sich wie eine Gazelle im Angesicht eines Löwen vor. Was für eine verrückte Art zu leben!
    Elena war dankbar, dass sie nicht allein diese Bedrohung empfand; dass der Russe den Helden spielte, bestätigte ihre Wahrnehmung nur. Dabei tat er es unauffällig, einfach: ein Schritt und eine kurze Drehung. Was für eine Erleichterung, welch schmerzliche, wundervolle Erleichterung, auch nur einen Moment von dem kalten Blick des ruhigen Mannes befreit zu sein. Dafür konnte sie sich gar nicht genug bedanken.
    Trotzdem war es nicht richtig. Sie konnte es nicht annehmen. Sie musste ihre Schlachten selbst schlagen, denn sich an einem Ort wie diesem auf jemanden zu verlassen, das hieß doch nur, die Bestrafung herauszufordern, das Scheitern zu riskieren, und dafür stand zu viel auf dem Spiel. Sie musste gleich am Anfang Stärke zeigen, auf keinen Fall Schwäche. Sei eine Ein-Mann-Armee.
    Trotzdem fühlte sie sich bei der Geste des Russen wohl. Sie machte ihr Hoffnung. Mehr als das sogar, als sie schließlich doch einen Blick riskierte und bemerkte, dass er sie anstarrte.
    Uralte Augen, dachte sie, gefesselt von dem Leiden, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, einem Hauch von bitterer Süße. Was verleiht einem Menschen solche Augen?
    Seiner Nacktheit konnte sie nicht entgehen. Elena sah ihm unverwandt in die Augen. Er hielt sich mit zu viel Würde aufrecht, als dass sie ihn so hätte beleidigen können. Ihre Wangen brannten vor Verlegenheit; es war fast so schlimm, gewaltsam mit einer solchen ungeschützten Blöße konfrontiert zu werden, wie von ihrer Gabe erpresst zu werden. Vergewaltigung nach Vergewaltigung. Elena konnte es nicht akzeptieren, diesen Raub ihrer größten Intensität und Kontrolle. Und sie glaubte auch nicht, dass dieser Mann es akzeptierte. Auch wenn sie ihn nicht kannte, sie spürte doch seinen sturen Stolz, seine eiserne Entschlossenheit. Er war ein Kämpfer.
    Der bis zum bitteren Ende kämpfte.
    Was haben sie dir angetan? Mein Gott, was haben sie mit dir gemacht? Blut lief aus seiner Nase und seinen Ohren. Dann blitzte etwas in diesen gehetzten Augen auf, die Gewissheit des Todes, der an sein Herz klopfte. Im nächsten Augenblick sackte der Russe zu Boden. Elena ging mit ihm auf die Knie, berührte ihn, pumpte ihre Kraft in seinen Körper, folgte der Spur seines Leidens mit dem Wissen, das ihre Gabe ihr verlieh. Sein Gehirn. Es ist sein Gehirn. Es stirbt.
    »Halten Sie durch«, flüsterte Elena und kniete über dem blassen, ausgestreckten Körper des Russen, der schon bald ein Leichnam sein würde; seine Vitalität sickerte geradezu aus ihm heraus. Seine Lider schlossen sich flatternd über den dunklen, uralten Augen. Elena hoffte, dass es ihr gelang, ihn dazu zu bringen, sie wieder zu öffnen.
    Es kribbelte sie am ganzen Körper. Sie spürte, wie ihre Fingerspitzen summten, als sie von ihrem Körper in den seinen reiste, den Strom seines Geistes suchte. Ihr Instinkt führte sie, die Energie ihres Willens, mit der sie seinen Geist zwang, ihr zuzuhören, während sie ihn schlicht bat zu tun, was eigentlich ganz natürlich hätte geschehen sollen. Der Russe widersetzte sich ihr nicht. Sie fühlte sich von Wärme umschlossen.
    Die metaphysische Repräsentation des Hirns dieses Mannes war sehr merkwürdig; es erfüllte ihre Vision vollkommen: wie ein weißer Geist, der einen Schatten ausblutete, und dessen Form im Dunkeln verschwamm. Elena fing das verlorene Licht ein, drückte es an sich, während sie weitermachte und den Geist des Russen in ihrem Herzen sammelte. Sie fütterte ihn

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