Shakespeare erzählt
sein, daß der Wahn sein Hirn nur kurz durchgerüttelt hat. Nein, jetzt, da Polyxenes geflohen ist, kommt er erst richtig in Fahrt.
»Warum ist er weg? Na, warum wohl!«
Es gibt niemanden mehr in seiner Nähe, der ihm seine Fragen beantwortet. Der Wahn ist so mächtig, daß selbst die zynischsten Opportunisten die Nähe des Königs meiden. Der König ist allein. Aber darüber klagt er nicht. Denn eines weiß er: Alle haben sich gegen ihn verschworen. Und wer steckt hinter der Verschwörung? Hermione – die Hure!
»Hure!« sagt er zu ihr.
»Du bist krank«, sagt Hermione. Auch sie sieht den anderen, der aus seinen Augen schaut.
»Du bist keine Hure, nein?«
»Nein, ich bin keine Hure. Ich liebe nur dich, und ich habe nie einen anderen geliebt.«
»So. Und was ist das da?«
Das da? Was meint er damit? Er zeigt auf Mamillius. Der Knabe ist nicht das da, er ist ein Mensch, und er ist sein Sohn.
»Mamillius ist unser Sohn«, sagt Hermione.
»Und ihr lacht euch den Bauch hohl hinter meinem Rücken? Das habe ich geglaubt bis gestern, daß der da mein Sohn ist. Heute weiß ich, daß er ein Bastard ist.« – Das sagt Leontes in Gegenwart von Mamillius.
Hermione nimmt Mamillius, drückt ihn an sich, schließt sich mit ihrem Sohn in ihren Gemächern ein. Und Hermione weint. Sie kennt sich nicht aus. Sie sieht ja, ihr Mann ist krank, aber sie weiß nicht, was es für eine Krankheit ist, und sie weiß nicht, wie ihm zu helfen wäre.
Mamillius teilt sich in Verwunderung und Sorge. Er ist zehn Jahre, in einem Alter also, in dem Buben über einen klaren Verstand und eine rationale Sehweise der Welt verfügen wie nie wieder in ihrem Leben. Es hat ihn nicht gekränkt, daß sein Vater zweifelte, ob er sein legitimer Sohn sei. Zu deutlich stehen ihm die väterlichen Züge im Gesicht, schon so oft ist ihm das bestätigt worden. Und wie war das früher? Er ist erst zehn und spricht von früher! Und früher, das meint: vor wenigen Tagen erst. – Da haben sich sein Vater und er einen Spaß gemacht, haben vor dem Spiegel Gesichter geschnitten, und jedesmal sind sie nach einer Weile verstummt und haben ihr Bild betrachtet, andächtig beinahe, weil sie sich so ähnlich sehen. Hat der Vater das vergessen? Mamillius, obwohl er Angst hatte, empfand Interesse, ein beinahe wissenschaftliches Interesse, als der Vater vor ihm und der Mutter in solche Raserei verfiel, in einen Taumel, der über die simpelsten Wahrheiten hinweg seine Salti machte, dem nicht einmal einsichtig war, daß eins und eins zwei ist. Mamillius ist überzeugt, daß die »Krankheit« bald vorüber sein würde. Er tröstet seine Mutter.
»Es kann ja gar nicht anders sein«, sagt er. »Es ist, wie wenn ich Fieber hatte. Da sagtest du, je höher das Fieber, um so besser, das Fieber ist da, um die Krankheit zu besiegen.«
»Hoffen wir es«, sagt Hermione, aber sie hört nicht auf zu weinen.
Mamillius macht sich Sorgen, um seinen Vater und nicht weniger um seine Mutter. Der Vater wird erfrischt und gekräftigt aus seinem Wahn erwachen, denkt Mamillius. Aber die Mutter – aus ihren Augen blickt nicht eine andere, die durch Fieber vertrieben werden könnte. Mamillius fürchtet, die Mutter könnte unter der Krankheit des Vaters mehr Schaden erleiden als der Vater selbst. Und Mamillius kennt nur eine Medizin gegen ein schweres Herz: »Es war einmal …«
Er setzt sich auf das Bett der Mutter, läßt sie ihren Kopf in seinen Schoß legen, und dann erzählt er ihr. Alle Geschichten, die er kennt, erzählt er ihr. Und Mamillius kennt viele Geschichten. Seine Amme, Paulina, hat es so mit ihm gemacht, als er noch kleiner war. Er hat seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, und sie hat ihm erzählt.
Mamillius kann den Kummer seiner Mutter nicht ermessen. Weil er zuwenig weiß. Zum Beispiel weiß er nicht, daß seine Mutter schwanger ist. Vielleicht hat Mamillius, der kleine, große, naive, kluge Mamillius, ja recht, und die Verrücktheit seines Vaters geht vorüber wie Fieber im Winter. Dann wird man nicht mehr darüber sprechen. Aber wenn der Wahn anhält? Wenn er gar bleibt? Das neue Kind wird einen Vater kennenlernen, wie Mamillius ihn nicht kennengelernt hat. Das neue Kind wird sagen: Mein Vater ist ein böser Mann.
Leontes ist ein böser Mann. Wenn Hermione meinte, er werde sich vielleicht beruhigen, wenn er sie nicht sähe, dann hat sie sich getäuscht. Leontes tobt. Zerschlägt das Mobiliar. Schickt Bedienstete in die Arbeitslosigkeit, weil sie den Blick vor ihm senken.
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