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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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vollständigen Glück gehört wenigstens ein unerfüllter Wunsch. Der Trieb, die Sehnsucht zu befriedigen, aber ließ dem Verstand nur diesen winzigen Augenblick.
    Polyxenes, Leontes’ Freund, ist der König von Böhmen. Das ist weit weg von Sizilien. So weit weg, daß es sein kann, daß dazwischen noch ein anderes Böhmen Platz hat, eines, das nicht am Meer liegt; denn das Böhmen des Polyxenes liegt am Meer. Und mit dem Schiff kann man von dort aus nach Sizilien fahren.
    Auch Polyxenes hat in all den Jahren den süßen Schmerz der Sehnsucht nach diesem fernen langen Ferientag mit den vier Farben in sich gespürt. Gern nimmt er die Einladung an.
    Und er bleibt ein paar Monate. Der helle Verstand, der in jenem winzigen Augenblick Leontes gewarnt hatte, behielt nicht recht: Das Glück der Erfüllung ist noch größer als das Glück der Sehnsucht.
    Und dann sind die paar Monate vorbei. Eine brüderliche, atemraubende, brillenverschiebende Umarmung nach dem Frühstück besiegelt das Ende der Ferien.
    »Ich muß abfahren«, sagt Polyxenes.
    »Bleib!« sagt Leontes.
    »Ich darf nicht«, sagt Polyxenes. »Ich muß mein Böhmen regieren.«
    Aber Leontes läßt Polyxenes nicht los. »Bleib, Freund!«
    »Ich kann nicht.«
    »Geh noch nicht, Bruder!«
    »Ich muß.«
    Und so weiter, kaum Variationen im Vokabular der Freunde.
    Leontes gibt nicht auf. Während Polyxenes seine Koffer packt, nimmt er Hermione beiseite. »Wenn du ihn bittest, dann muß er bleiben. Aus Höflichkeit.«
    »Aber wenn er doch nicht will, weil er nicht kann, weil er nicht darf.«
    »Er will ja. Und wenn du ihn bittest, muß er.«
    Hermione nimmt dem Polyxenes den Koffer aus der Hand und bittet ihn zu bleiben. Da kapituliert die Pflicht.
    Polyxenes sagt: »Ja.«
    Schön.
    Nein, nicht schön!
    Wäre die Seele des Leontes unser geliebter Planet, dann wäre dieses kleine Wort mit den zwei Buchstaben, das Polyxenes ausgesprochen hat, ein Komet in der Größe von Texas, und der würde einschlagen. Die Folge: Verheerung und Winter, ein verrückter Winter.
    Wir haben Othello rasen sehen vor Eifersucht. Aber wir sahen auch Jago. Die Kunst der Intrige pflanzte den Wahn in Othellos Herz, hegte ihn, bis er die häßliche Frucht trug. Der Wahn des Leontes hat keinen Ziehvater.
    Seine Eifersucht überspringt alle Stadien ihrer Entwicklung und beginnt beim Endpunkt: beim Wahn. Und der Wahn schlägt ein in das Herz des Leontes wie der Komet in die Erde.
    Wie kann das sein, denkt er. Ziemlich schnell ja gesagt, der Herr Freund. Ich habe ihn eine halbe Stunde zu beschwatzen versucht. Sie, die Frau Gattin, braucht nur ein Wort zu sagen. Interessant! – Er selbst, er selbst hatte Hermione doch gebeten, mit Polyxenes zu sprechen! Vergessen? Alles vergessen! Leontes sieht klar: Die beiden haben etwas miteinander. Polyxenes vögelt Hermione.
    Leontes hat einen Diener, Camillo. Dieser Mann ist treu. Jedes weitere Wort wäre unnötige Arabeske.
    »Camillo?« ruft Leontes.
    »Ja, mein König?«
    »Camillo, bist du gewohnt zu tun, was ich dir befehle?«
    »Ich bin dein Diener.«
    »Kannst du den Degen führen, Camillo?«
    »Wenn es notwendig ist, kann ich den Degen führen.«
    »Es ist notwendig«, sagt Leontes. »Töte Polyxenes!«
    Aus den Augen des Leontes blickt ein anderer. Der König will nicht seinen Diener prüfen, der König macht nicht einen Scherz mit seinen Dienern, nein. Aus den Augen des Leontes blickt ein anderer. Und diesen anderen kennt Camillo nicht. Und den will er auch nicht kennenlernen. Mit dem kann man nicht diskutieren. Da bleibt nur die Flucht.
    Camillo eilt zu Polyxenes und schildert ihm, was Leontes gesagt hat. Und Polyxenes glaubt dem Diener. Ja, er glaubt ihm auf Anhieb. Warum eigentlich? Geht das nicht ein bißchen flott? Schließlich kennt der König von Böhmen den König von Sizilien seit seiner Kindheit. Der beste Freund! Die letzte Sehnsucht vor dem absoluten Glück! So haben die beiden noch vor einer Stunde übereinander gesprochen. Und dann kommt ein Lakai, erzählt absurdes Zeug, daß ein anderer aus den Augen des Leontes blickt und so weiter … Warum kann Polyxenes glauben, daß es solchen Wahnsinn gibt? Das kann doch nur einer glauben, der solchen Wahnsinn für möglich hält. Und für möglich halten kann so einen Wahnsinn nur einer, der den Keim solchen Wahnsinns selbst in sich trägt …
    Polyxenes verläßt zusammen mit Camillo Sizilien, sie fahren nach Böhmen, wollen nie wieder hierher zurückkehren.
    Faßt sich Leontes? Kann ja

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