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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Rodrigo ist wütend. Und Rodrigo mag vielleicht nicht viel Hirn haben, Muskeln hat er. Muskeln und Wut sind eine Kombination, auf die sich Jago nicht einläßt.
    »Na gut«, sagt er. »Der da! Der, mit dem ich gerade gesprochen habe! Dem du das Glas Wein auf den Rock geschüttet hast! Er steht deinem Ziel im Weg. Der ist näher an der Dame dran als du. Ich habe versucht, ihn zu bestechen. Er hat das Geld genommen, dein Geld, aber Abstand will er nicht nehmen.«
    »Und?«
    »Schau ihn dir an. Er ist jünger als ich, stärker als ich.«
    »Und?«
    »Mach ihn fertig.«
    Das nun ist ein klarer Plan. An dem gibt es nichts auszusetzen. Diesen Plan versteht Rodrigo. Er läßt Jagos Ärmel los und läuft Michael Cassio nach. Die beiden schlagen sich. Rodrigo verwundet Cassio, Cassio verwundet Rodrigo. Rodrigo schleppt sich zu Jago.
    »Hilf mir!«
    »Freund, du bist verwundet!«
    »Hilf mir!«
    Nun stellen Muskeln und Wut keine Gefahr mehr dar. Aber Rodrigos Mundwerk könnte zur Gefahr werden. Es könnte ausplaudern, wer hinter der Niedertracht steckt.
    »Laß deine Wunde sehen«, sagt Jago.
    Rodrigo dreht ihm den Rücken zu, und Jago stößt ihm den Dolch ins Herz.
    Was Jago sich denkt, kann er nicht bei sich behalten, es muß über die Lippen: »Heute nacht wird sich entscheiden, ob ich der glücklichste Mensch werde oder ob ich untergehe.«
    Ein merkwürdiger Satz. Kann sich Jago überhaupt vorstellen, ein glücklicher Mensch zu sein? Wie würde ein glücklicher Jago aussehen? Er, der über sich selbst sagt: »Ich bin nicht, der ich bin.« Es gibt kein Wort für Jago. Es gibt nur Wörter, die beschreiben, was Jago nicht ist. Wörter, die beschreiben, was Jago nie sein wird. Glücklich zum Beispiel. Jago kennt keine Ruhe. Wenn er innehält, freut ihn der Boden unter seinen Füßen nicht. Er ist nicht der, der verneint; er ist die Verneinung als Person. Das Glück steht weit am anderen Ende. Glück ist die Verneinung von Jago. Deshalb mutet uns sein Satz so merkwürdig an: Weil das Glück, das wir uns einzig für Jago denken können, identisch ist mit seinem Untergang.
     
    Desdemona ist tot. Othellos Wahn hat sein Ziel erreicht. Er stellt sich der Gerechtigkeit. Auch der Wahn vermochte sein Selbstbewußtsein nicht zu schmälern. Gerechtigkeit ist für Othello etwas, das nur er selbst gewähren kann. Er nimmt sich das Leben. Mit Schaudern hören wir seine letzten Worte: Er habe Desdemona geküßt, bevor er ihr den Tod gab. Der Egomane geht.
    Jagos Intrige fliegt auf. Ausgerechnet seine Frau, Emilia, beweist seine Schuld. Jago wird bitter dafür zahlen, Venedigs Gerichte verhängen erbarmungslose Strafen. Und wir können uns des Eindrucks nicht erwehren: Jago ist zufrieden damit.

Das Wintermärchen
    Leontes, der König von Sizilien, und seine Königin Hermione sind glücklich. Sie haben Diener, die nichts anderes sein wollen als ihre Diener. Sie regieren über ein Volk, das nirgendwo anders leben möchte als in Sizilien unter der Herrschaft von König Leontes. Sie haben einen Sohn, Mamillius, ein herrliches Kind, ein Heilmittel für den Untertan, die Wärmequelle für das Herz seiner Eltern. Manchmal, wenn König und Königin nebeneinander im Bett liegen, zählen sie ihr Glück auf.
    »Wir lieben uns«, sagt Leontes. »Ich dich, du mich.«
    »Ja«, sagt Hermione. »Das erstens.«
    »Wir lieben unseren Sohn.«
    »Ja. Zweitens.«
    »Das Volk.«
    »Drittens.«
    »Das Leben.«
    »Das wäre ein Überbegriff, aber gut: viertens.«
    Sie lachen gern und lachen oft. Gerade jetzt kann man sie lachen hören.
    Und noch etwas: König und Königin sind sehr gescheit, sie kennen das Menschenherz. Sie ahnen: Das Glück wäre nicht vollständig, wenn da nicht noch eine Sehnsucht ihren Platz hätte. Der Mensch muß wünschen. Und so eine Sehnsucht gibt es: Leontes hat einen Freund: Polyxenes. Die beiden sind miteinander aufgewachsen. Die Kindheit dehnt sich in der Erinnerung zu einem einzigen langen Ferientag, bestehend aus vier Farben: blau der Himmel, grün die Wiesen, weiß die Spaghetti, rot die Tomatensauce.
    »Das Paradies«, sagt Leontes und weint glückliche Tränen. »Das war das Paradies.«
    »Lade Polyxenes zu uns nach Sizilien ein«, sagt Hermione.
    Einen winzigen Augenblick zögert Leontes. Dann springt er aus dem Bett. »Das werde ich tun!«
    Hermione hat sein Zögern nicht bemerkt. Es war ein winziger Augenblick hellsten Verstandes. Der Verstand warnte Leontes: Dann ist dein Glück nicht mehr vollständig, denn zum

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