Shakespeare erzählt
nur einmal bei Timon war, mußte den Eindruck gewinnen: Der mag mich, der mag mich ganz besonders.
Kritiker gab es natürlich auch, gibt es überall. Und weil sie rein gar nichts finden konnten, stellten sie die alten Fragen immer wieder und noch einmal: Woher hat der Timon so viel Geld? Wer ist dieser Timon überhaupt? »Da gibt’s kein Geheimnis«, wurde ihnen geantwortet. »Wer’s wissen will, dem werden wir’s erzählen!«
Timon war einst General, wurde erzählt. Er war oberster Heerführer von Athen. Er hat die Feinde Athens geschlagen, zerhauen, zerrieben auf alle Ewigkeit. Und er hat für Ruhe und Sicherheit in der Stadt gesorgt. Zu seiner Zeit konnte einer bei Nacht und Nebel durch die Straßen von Athen gehen, die Geldbörse offen auf der Hand, und wenn er Lust hatte, konnte er laut vor sich hinsagen: »Diebe! Wo seid ihr? Ich hab Geld in der Hand!« Es gab keine Diebe. Es gab keine Diebe in Athen, als Timon die Sicherheitspolitik der Stadt verantwortete, und keine Meuchler, keine Betrüger und keine Verächter.
Athen war groß und reich. Und es wurde größer und reicher. Denn Timon zog aus und eroberte fremde Länder und fremde Kassen. Und damals – so hieß es – sei eben auch einiges für ihn abgefallen. Das habe er gut angelegt. Und dies seien die Quellen, die nie versiegen. Und wen speisen heute diese Quellen? Die Freunde des Timon. Und wer sind die Freunde von Timon? Die Bürger von Athen. Also komme sogar das, was damals für ihn abgefallen ist, heute der Stadt zugute.
»Ein Menschenfreund?«
»Wie es keinen vor ihm gab und keinen nach ihm geben wird.«
»Und warum liebt er die Menschen?«
Wer das fragt, bekommt einen empörten Blick. Andererseits – seien wir ehrlich – liegt Menschenliebe nicht unbedingt auf der Hand.
Es gibt eine Geschichte über Timon: Nach seinem letzten Sieg über die Feinde Athens wurde ihm die größte Ehre der Stadt zuteil. Eine Feier wurde organisiert, bei der jeder Senator eine Rede hielt. Das ging stundenlang und war wunderbar – wenn auch ein wenig anstrengend zum Schluß hin. Und nach der Feier saßen Timon und einige Vertraute beisammen und diskutierten. Es ging um Ehre. Und alle waren der Meinung, Ehre sei ein Verdienst, Ehre müsse man sich erwerben; wer geehrt werden will, muß etwas dafür tun. Der muß in Ehre investieren. Aber wenn man investiert, kriegt man mehrfach zurück. Der beste Beweis für diese These war Timon. Und dann fragte einer, wie das mit der Liebe sei. Ob Liebe auch ein Verdienst sei. Ob man in die Liebe ebenso investieren könne wie in die Ehre. Die Mehrheit der Anwesenden sagte ja.
Ja, selbstverständlich, auch die Liebe könne erworben werden. Wer sich darum bemüht, der bekommt sie. Alles andere wäre ungerecht. Aber einen gab es, der stritt das ab. Die Liebe ist eine Gnade, sagte der. Du kannst dich um sie bemühen, so sehr du willst. Wenn sie dir geschenkt wird, dann bestimmt nicht, weil du dich um sie bemüht hast. Die Liebe ist kein Verdienst. Es gibt Menschen, die werden geliebt, ohne daß sie es verdienen. Und es gibt Menschen, die werden nicht geliebt, obwohl es gerecht wäre, sie zu lieben. Liebe kennt keine Gerechtigkeit. Liebe kennt keine Dankbarkeit. Man kann nicht in Liebe investieren. So sprach der eine.
Und Timon, heißt es, sei empört gewesen. Nie habe man Timon so aufgebracht gesehen. »Wer liebt, wird zurückgeliebt!« habe er ausgerufen. »Das ist ein Gesetz!«
Von nun an, so erzählte man, habe Timons Leben nur noch einen Sinn gehabt, nämlich, diese These zu beweisen.
So besuchen die Bürger von Athen das Haus des Timon. Der eine schaut einmal in der Woche vorbei, der andere kommt jeden Tag. Nicht wenige kann man zum Frühstück und zum Mittagessen hier antreffen. Die meisten aber nehmen ihr Frühstück, ihr Mittagessen und ihr Abendbrot im Haus des Timon ein. – »Er hat doch so eine Freude, uns zu sehen!« – Und dann kommen sie selbstverständlich auch in der Nacht, wenn getanzt und gesungen wird. – »Was würde sich Timon denken, wenn wir plötzlich nicht mehr kämen! Es wäre ein Affront!«
Da ist zum Beispiel der Dichter. Der hat einen festen Platz an der Tafel. Mit Namensschildchen aus Messing hinten an der Lehne – eine kleine Aufmerksamkeit von Timon. Timons Gegenwart inspiriert den Dichter. Selten, daß eine Woche vergeht, ohne daß er eine Ode mitbringt, die er auf Timon verfaßt hat. Die liest er dann vor dem Nachtisch vor, und nach dem Nachtisch übergibt er sie Timon. Timon besitzt
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