Shakespeare erzählt
das kenne ich, setz dich zu mir, und dann seien die beiden eine halbe Stunde lang einfach nur so dagesessen, und am Ende sei alles gut gewesen.« Jeder kennt ähnliche Geschichten.
Und Negatives gibt es nichts zu berichten über König Lear? Nein, eigentlich nicht. Wenn Negatives, dann als Kollateralschaden des allzu Positiven. Was heißt das? Das heißt: Lear hat viel Gefühl – das ist das Positive; Lear hat zuviel Gefühl – das ist das Negative. Gefühl kennt nur das Besondere, es hat kein Verständnis für das Allgemeine. Lear liebt nicht die Menschheit, aber er liebt den Menschen. Und er liebt immer nur den Menschen, mit dem er sich im Augenblick beschäftigt. So hat jeder, den Lear liebt, das Recht zu sagen: Er liebt nur mich. Das gleiche allerdings gilt für die anderen Gefühle ebenso. Wen Lear haßt, der darf sich denken, er haßt nur mich. Schön wäre es, wenn Gefühl ausschließlich die Liebe meinte.
Als Lear in jungen Jahren zum König gekrönt wurde, machte er sich viele Gedanken über dieses höchste Amt. Er wollte ein guter König sein. Und er sagte sich: Ein guter König muß vor allem klug sein. Klugheit dirigiert den Verstand ebenso wie das Herz und die Seele; Klugheit mißt das eine und das andere und stellt ein richtiges Verhältnis her zwischen beiden. Was aber ist Klugheit? Und der junge König kam zu der Ansicht: Klugheit bedeutet die Fähigkeit, zu erkennen, was der Fall ist. Alles, was der Fall ist, ist der Name der Welt, und der Erkennende ist ein Teil davon. Also muß ein König, der ein guter, kluger König sein will, zuvorderst in der Lage sein, sich selbst zu erkennen. Und Selbsterkenntnis, so sagte sich Lear, heißt: Erkenntnis der eigenen Schwäche. Und er wußte: Seine Schwäche war sein starkes Herz. Dort wohnte eben nicht nur die Liebe, sondern auch der Zorn. Er wußte, wenn er zornig war, konnte er um sich schlagen und dabei Dinge zerschlagen, die sich nicht mehr reparieren ließen. Als Privatmann kann man sich so etwas manchmal ja leisten. Als König nicht. Ich werde, wenn ich ein guter, kluger König sein will, Sicherheitsventile einbauen müssen, sagte sich Lear als junger Mann. Und das tat er. Er holte sich Berater an den Hof. Drei Berater: Kent, Gloster und den Narren.
Kent ist ein Mann, der die Dinge der Welt in seinem Kopf vom Allgemeinen zum Besonderen hin ordnet. Er sieht zuerst die Menschheit und dann den einzelnen Menschen. Nur was der Menschheit als Ganzes guttut, kann auch dem einzelnen Menschen guttun. Erst wenn sein Verstand eine Angelegenheit in ihre Einzelteile zerlegt und jedem Teil das ihm zustehende Gewicht zugeordnet hat, erlaubt Kent seinen Gefühlen, sich an dieser Angelegenheit zu erfreuen oder sich über sie zu ärgern. Wenn das Herz seines Königs zu explodieren droht, ist Kent der erste Mann, der gerufen wird. In den meisten Fällen kann er den König beruhigen. »Versuchen wir doch, die Sache einmal anders zu sehen«, so lautet sein Einleitungssatz. Lear vertraut Kent. Er weiß, daß Kent unbedingt loyal ist. Aber Lear kennt die Sprengkraft seines eigenen Herzens. Er weiß, daß Situationen eintreten können und immer wieder eintraten, in denen Kents besonnene Ratschläge nicht angehört werden und nicht angehört wurden, eben weil das eigene Herz solchen Lärm machte. Dann tritt das zweite Sicherheitsventil in Kraft: Gloster.
Auf den ersten Blick mutet es seltsam an, daß Lear ausgerechnet den Grafen von Gloster zu seinem zweiten Berater gewählt hat. Was erwartet er von ihm? Gloster ist in seinem Charakter dem König zum Verwechseln ähnlich. Vor allem in puncto Gefühl. Wenn Lear den Gloster fragt, dann antwortet der, was Lear sich ohnehin denkt; nicht, weil er ein Opportunist ist, sondern weil er tatsächlich so denkt. Also was kann Glosters Ratschlag dem König nützen? Nicht Glosters Ratschläge helfen Lear, seine Schwäche zu beherrschen, sondern vielmehr die Tatsache, daß er sich selbst in diesem Mann wiedererkennt. Gloster ist Lears Spiegel. Ein Spiegel zeigt unsere Schwächen als Karikatur, und die spricht deutlicher als jedes Argument. Wenn Kent versagt, dann tritt Gloster auf.
Und der Narr? Der Narr übt Kontrolle in Permanenz.
Er ist der einzige, der jederzeit Lear kritisieren darf. Er darf als einziger sich über alle Höflichkeitsformen hinwegsetzen. Er darf den König verspotten, wenn er es für nötig hält, er darf ihn beschimpfen, wenn er glaubt, sich anders nicht Gehör verschaffen zu können. Seine Aufgabe ist es, das
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