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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Feuer im Herzen des Königs klein und wärmend zu halten.
    Lear ist ein alter Mann geworden. Er hat sein Land gut und klug regiert. Nun glaubt er, es sei genug. Er weiß, das Alter neigt zu Sturheit und Rechthaberei. Er will die Macht an Jüngere abgeben. An seine Töchter: Goneril, Regan, Cordelia.
    Regan ist mit dem Herzog von Alba verheiratet, Goneril mit dem Herzog von Cornwall. Um Cordelia bemühen sich der Herzog von Burgund und der Herzog von Frankreich. Lear hat sich ein Spiel ausgedacht; zugegeben ein kindliches, vielleicht sogar ein kindisches Spiel. Er möchte, daß vor den Edlen des Landes seine Töchter vortreten und ihm, dem Vater und König, sagen, wie sehr sie ihn lieben. Die Liebe ist ungerecht, das weiß niemand besser als Lear, und jeder am Hof weiß, daß der König seine jüngste Tochter Cordelia mehr liebt als Regan und Goneril.
    Lear hat ein schlechtes Gewissen deswegen. Er will gerecht sein, und er will sein schlechtes Gewissen beruhigen. Er denkt sich: Die schönsten Worte für ihre Liebe wird ohne Zweifel Cordelia finden, denn sie liebt mich am meisten. Dann werden alle verstehen, warum auch ich sie am meisten liebe, und werden mir die Ungerechtigkeit, die in all den Jahren in meinen Blicken und Worten lag, verzeihen. Aber dann werde ich dennoch jeder meiner Töchter den gleichen Teil meines Reiches überschreiben. Cordelia soll nicht ein Buchenwäldchen mehr bekommen als Regan und nicht einen Weiher mehr als Goneril. Und alle werden sich davon überzeugen können, daß ich die Ungerechtigkeit meiner Liebe mit meinem Erbe ausgleiche, wie es sich für einen klugen und guten König geziemt.
    Soweit die rationale Begründung, die Lear sich selbst für dieses Spiel gibt. In Wahrheit will er nach all den Jahren der königlichen Selbstbeherrschung endlich, endlich in Zeugenschaft der ganzen Welt hören, wie sehr er geliebt wird. Jeder am Hof, jeder im Reich gönnt dem König diese Genugtuung, und es gibt keinen, der sein Spiel mißbilligt.
    »Goneril«, sagt Lear, »tritt vor, meine Tochter. Sag mir, wie sehr du mich liebst!«
    Goneril hat sich vorbereitet.
    »Mein König, mein Vater«, beginnt sie, »ich liebe dich mehr, als Worte es ausdrücken können. Darum müßte ich eigentlich verstummen. Ein Wort kann doch nur beschreiben, was es schon einmal gegeben hat. Wenn ich aber meine Liebe mit dem vergleiche, was es schon einmal gegeben hat, dann erniedrige ich sie. Deshalb wiederhole ich: Ich liebe dich mehr, als Worte es ausdrücken können.«
    Das klang ein wenig hölzern und auch ein wenig aus wendig gelernt, aber es ist ja nichts dagegen einzuwenden, wenn sie ihr Statement vorbereitet hat, und ihre Art ist eben ihre Art. Lear ist zufrieden. Er hat gerade so viel bekommen, wie er erwartet hat.
    »Nun, Regan, du! Sag mir, wie sehr du mich liebst.«
    »Meine Schwester macht es mir schwer, dir zu antworten«, sagt Regan mit bebender Stimme. »Jedes Wort, das sie sagte, hätte ebenso ich sagen können. Nur eines noch dazu: Meine Liebe zu dir füllt mich so sehr aus, daß keine andere Liebe mehr Platz in mir hat, weder die Liebe zu einem Mann noch die Liebe zu Kindern, sollte ich jemals welche haben.«
    Hört sich übertrieben an. Aber macht nichts. Sie hat ja selbst gesagt, es fällt ihr schwer, nach Goneril aufzutreten. Lear ist zufrieden.
    »Cordelia!«
    Jeder weiß, dieses kleine, kindliche Spiel meint doch in Wahrheit nur sie. Von Cordelia will der König hören, wie sehr sie ihn liebt. Gonerils und Regans Liebe vermag vielleicht Lears Verstand zufriedenzustellen; Cordelias Liebe allein nährt sein hungriges Herz.
    »Cordelia!«
    Cordelia liebt ihren Vater. Sie trägt das Herz ihres Vaters im Busen. Nur Cordelia hätte das Recht zu sagen, was Goneril zu Anfang behauptet hat: Wenn ich meine Liebe mit dem vergleiche, was es schon einmal gegeben hat, dann erniedrige ich sie. Aber noch tiefer fühlte sich ihre Liebe erniedrigt, wenn sie in eine Reihe mit diesen schamlosen Schmeicheleien gestellt würde. – Cordelia schweigt.
    »Cordelia, ich warte auf deine Antwort.« – Seht doch, wie Lear lächelt! Seht doch seine glücklichen Augen! So hat er es sich vorgestellt. Daß Cordelia eine Pause läßt, ehe sie antwortet. Denn die Antworten des Herzens brauchen mehr Zeit, bis sie sich zu Worten formen, als die Antworten des Verstandes.
    »Cordelia, wie sehr liebst du mich?«
    »Ich liebe dich, wie es meine Pflicht als Tochter ist.«
    Das Lächeln erlischt, die Augen des Königs sind ohne Glück.

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