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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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    »Ein Brief? Von wem? Zeig ihn mir!«
    Widerwillig zieht Edmund das Blatt aus seinem Ärmel, reicht es dem Vater. Gloster liest. Er muß sich setzen. Was hier steht, ist ungeheuerlich: »Lieber Edmund … während unser Vater dem alten König wie ein Fuchsfell zu Füßen liegt …«, und so weiter, »… es wird höchste Zeit, daß die Alten den Jungen Platz machen …«, und so weiter, »… und wenn er nicht freiwillig abdankt, dann muß man eben entsprechend nachhelfen …«, und zum Schluß: »Ich hoffe auf Deine Unterstützung. Dein Bruder Edgar.«
    »Edgar meint das nicht so«, stammelt Edmund.
    Der Vater sieht die Tränen in den Augen des Sohnes. Daß sich Edmund so vehement für seinen Bruder einsetzt, stimmt Gloster etwas milder. »Wie kann er es denn sonst meinen, Edmund?«
    »Er hat einen etwas derben Charakter«, versucht Edmund seinen Bruder zu verteidigen.
    »Es ehrt dich, daß du ihn in Schutz nimmst«, sagt Gloster. »Aber ich kann lesen.«
    »Bitte, Vater, gib Edgar noch eine Chance!«
    Jede Chance will Gloster seinem Sohn Edgar geben, jede Chance, die beweisen könnte, daß nicht wahr ist, was in diesem Brief steht.
    »Ich werde Edgar zur Rede stellen«, schlägt Edmund vor. »Du, Vater, versteckst dich und hörst zu, was wir reden. Dann sollst du sehen, daß er nicht meint, was er mit ungeschickter Hand niedergeschrieben hat.«
    Gloster ist einverstanden. Er umarmt Edmund, den geliebten Sohn, der zwar nicht legitimiert werden darf, der aber ein so gutes, treues, naives Herz hat.
    Wie ist es tatsächlich um das Herz des Edmund bestellt? Hat er überhaupt eines? Ähnlich wie Lear in seiner Jugend hat sich Edmund die Frage gestellt: Was ist Klugheit? Und er gab sich die gleiche Antwort: Klugheit bedeutet, die Welt zu erkennen, wie sie ist. Und er kam sogar zur gleichen Ansicht, daß Welterkenntnis Selbsterkenntnis einschließen muß. Aber anders als Lear versteht Edmund unter Selbsterkenntnis nicht Erkenntnis seiner Schwächen, sondern seiner Stärken.
    Und dies sind Edmunds Stärken. Erstens: Er ist schön und wird begehrt. Beweise dafür liefern Goneril und Regan, die Töchter des Königs. Sie sind verrückt nach ihm. Wenn Alba aus dem Haus ist, schickt Regan einen Boten. Wenn Cornwall sich auf die Jagd begibt, wartet Goneril in ihrem Schlafgemach. Alle lieben Edmund und sind verrückt nach ihm – wobei ihm das eine für das andere gilt. Sein Gesicht ist ein Spiegel, in dem jeder sehen kann, was er will. Ja, diesbezüglich ist Edmund wie sein Vater Gloster. Nur daß Glosters Gesicht die Schwächen und Edmunds Gesicht die Stärken der Menschen widerspiegelt. Und wer möchte sich nicht gern stark sehen?
    Zweitens: Edmund ist intelligent. Er ist intelligenter als alle. Und viel intelligenter als sein Bruder Edgar. Doch was nützt es ihm? Gar nichts. Edgar wurde gezeugt mit einer langweiligen Frau in einem langweiligen Bett. Aber legitim. Er, Edmund, ist die Frucht einer Affäre. Die war sehr leidenschaftlich. Doch was nützt ihm das? Gar nichts. Er ist ein Bastard. Für ihn gibt es nichts zu erben, kein Land, keinen Titel, kein Sparbuch – jedenfalls nicht, solange es Edgar gibt.
     
    Gloster soll sich also hinter einer Säule verstecken, Edmund will seinen Bruder zur Rede stellen. Edmund hält einen genau berechneten Abstand zu der Säule. Der Vater soll hören können, aber er soll nicht alles verstehen können. Edmund weiß, die Angst wird das Fehlende ergänzen. Und er weiß, die Angst wird das Fehlende in ihrem Sinn ergänzen. Gloster hat Angst, daß er von seinem Sohn Edgar hintergangen wird. Die Angst wird ihm einreden: Ja, du wirst hintergangen.
    »Jemand unterstellt dir Böses«, sagt Edmund zu seinem Bruder, laut und deutlich. »Unser Vater glaubt, du willst ihn töten.«
    »Ich will meinen Vater töten?«
    Wir kennen das Spiel: Edgar fragt einfach; aber die Angst macht aus dem Fragezeichen ein Rufezeichen, und Gloster hinter der Säule hört: »Ich will meinen Vater töten!«
    Nun flüstert Edmund: »Unser Vater belauscht uns. Er hat gehört, was ich zu dir gesagt habe. Du mußt mit größerer Empörung reagieren, sonst glaubt er tatsächlich, du willst ihn töten.«
    »Was soll ich tun?« flüstert Edgar zurück.
    »Also, wenn du so etwas zu mir sagen würdest, ich täte dich niederschlagen. Zieh deinen Degen! Geh auf mich los!« flüstert Edmund.
    Edgar tut, was ihm sein Bruder rät. Und er ist ihm obendrein auch noch dankbar.
    Der Vater sieht, und er deutet es nach dem

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