Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Timons Leben war ihre Chance. Ja, die Menschen hätten die Chance gehabt zu beweisen, daß sie besser sind, als Timon über sie denkt. Timon hat ihnen diese Chance gegeben. Das Böse hat mit dem Guten gewettet, und Timon war der Einsatz. Sein Leben war das Pfand. Er hat in das riskanteste Unternehmen investiert, das es gibt: die Liebe. Er hat verspielt. Die Menschen hatten die Chance, die ihnen Timon geboten hatte, nicht genutzt. Timon ist das Opfer. Er ist der geprellte Erlöser. Wenn einer das Recht hat, Verhungern, Verdursten, Verdorren, Verblühen, Verbrühen, Verfaulen, Ersticken, Ersaufen, Verbrennen, Erfrieren und elendes Verbluten den Menschen zu wünschen, dann Timon.
    Sein Menschenhaß ist nicht minder sensationell, als es seine Menschenliebe gewesen war. Die Bürger von Athen schleichen in den Wald, verstecken sich hinter Baumstämmen und Steinbrocken, hören sich an, was Timon von sich gibt. Das ist spannender als Theater.
    »Der kann ja noch dem Apemantus das Schimpfen beibringen«, heißt es.
    Apemantus sieht sein Geschäft bedroht. »Was äffst du mich nach!« stellt er Timon zur Rede. »Du redest wie ich. Aber du bist nicht wie ich.«
    »Nein«, gibt ihm Timon bitter recht. »Ich bin in der Tat nicht wie du. Dein Elend kann dem meinen nicht das Wasser reichen. Du hast nie etwas besessen. Du hast nie an das Gute im Menschen geglaubt. Du hast immer nur gespottet. Armut, schlechter Glaube und Spott sind dein Beruf von Anfang an. Du hast dir diesen Beruf selbst gewählt. Niemand hat dich gezwungen zu hassen und zu spotten. Am Abend legst du dich nieder und sagst: Heute war ich wieder einmal gut arm, heute habe ich wieder einmal blendend an das Schlechte im Menschen geglaubt, heute habe ich wieder einmal bravourös über alles geflucht. Du bist zufrieden wie ein Zimmermann. Und auch wenn Schimpfen und Hassen nicht im Berufsregister eingetragen sind, sie sind doch dein Beruf. Ich aber hatte alles, ich liebte alle. Ich habe alles verloren und mußte erkennen, daß mich nie einer geliebt hat. Ich wohne im Elend, du, Apemantus, bist nur ein Tourist hier.«
    »Und gefällt es dir im Elend?« fragt Apemantus. »Nein? Warum machst du es dann nicht wie die, die du haßt? Werde ein Schmeichler! Raff dich auf zum Schmarotzer! Krieche in ihre Häuser, lecke ihre Schwellen, preise ihre Dummheiten, verneige dich vor der Niedertracht! Bring etwas Kleines ins Haus, du wirst mit etwas Großem das Haus verlassen. Am Ende werden ihre Häuser leer sein, und deines ist voll. Dann kann das Spiel von vorne beginnen. Das nennt man Wirtschaft.«
    »Dann bist du weniger als ein Tier!«
    »Und wenn schon! Dann hast du wenigstens ein Ziel, nämlich: wie ein Tier zu werden. Die Natur hat uns als Tiere konzipiert. Scheckbücher sind in ihrem Plan nicht vorgesehen.«
    »Willst du ein Tier sein, Apemantus? Ein Löwe? Den der Fuchs betrügt? Ein Fuchs? Den der Wolf frißt? Ein Esel, der an seiner eigenen Dummheit verzweifelt? Komm mir nicht mit der Natur! Sie ist die Mutter der Lüge, des Betrugs, des Raubes. Schau die Sonne an! Nimmt sie nicht der Erde das Wasser? Schau den Mond an? Er stiehlt der Sonne das Licht!«
    »Und dich selbst?« fragt Apemantus. »Kannst du dich selbst lieben?«
    »Das kenn ich nicht!«
    »Kannst du dich wenigstens achten?«
    »Das kenn ich nicht!«
    »Du wünschst dem Menschen Verachtung und Tod. Auch dir selbst?«
    »Mir zuerst.«
    Apemantus ist betroffen. Ein Leben lang war er stolz gewesen, weil er dachte, es leuchtet die Sonne, und ihn schert es nicht, es ziehen die Sterne ihre Bahnen, und er wischt sich den Staub von der Schulter. Wenn ich zum schönsten Wunder »na und!« sage, so hatte er gedacht, dann kann ich nie enttäuscht werden, und wenn ich hinter dem freundlichsten Lächeln den Mörder vermute, dann kann ich nie verletzt werden. Allem und jedem fühlte er sich überlegen. Weil er nichts vom Leben erwartete und alles verachtete. Nun beweist ihm Timon, daß sein Hohnlachen Lüge war, und faules Wasser und schimmliges Brot waren Manier und Pose. Apemantus hat sich vom mißbilligenden Kopfschütteln der Leute ernährt, von ihrer heimlichen Bewunderung, ihrer offenen verzweifelten Feindschaft. Aber in Wahrheit war er nicht anders als die Schmeichler und Schmarotzer, die Timon ausgesaugt haben: Er gab kleinen Spott und bekam dafür einen großen Ruf. Apemantus war immer ein Tauschfähiger und immer auch ein Mehrwertfähiger! Apemantus hat keine Freude mehr, ein Zyniker zu sein.
    Timon krallt sich am

Weitere Kostenlose Bücher