Shakespeare erzählt
»Wie? Nicht mehr?«
»Nicht mehr und nicht weniger.«
Was ist mit den Sicherheitsventilen? Sie versagen. Alle. Mit dem heutigen Tag, haben sich Kent, Gloster und der Narr gesagt, ist unsere Aufgabe beendet. Heute ist der glücklichste Tag des Königs, was wären wir für pedantische Fleckenputzer, wenn wir an seinem glücklichsten Tag versuchten, sein Herz klein zu halten. – Und da explodiert das Herz des Königs!
»Aus nichts wird nichts!« donnert er los. »Dann werde ich das Reich neu aufteilen müssen! In zwei anstatt in drei Teile!«
Und in einem Ausholen wendet er sich an den Herzog von Burgund, der in den letzten Wochen seine Absichten so herzlich vorgetragen hat: »Wenn Ihr sie trotzdem haben wollt? Bitte sehr! Aber ohne einen Schuh Boden unter den Füßen, der ihr gehört!«
Kent erwacht. »Versuchen wir doch, die Sache …«
Lear hört nicht auf ihn, er hört nichts als sein schreiendes Herz. »Hinweg mit dir! Ich will dich nicht mehr sehen, Cordelia! Das wird das letzte Mal sein, daß ich deinen Namen ausgesprochen habe! Verlaß mein Reich!«
»Was tust du, alter Mann!« Kent ist laut geworden. Nicht in den brenzligsten Situationen bisher hatte er laut werden müssen. Jetzt muß er. »Siehst du denn nicht die Wahrheit? Kannst du ein falsches Herz denn nicht mehr von einem wahrhaftigen Herzen unterscheiden?«
»Wer sich auf ihre Seite stellt, der soll mit ihr gehen!« Und der König gibt gleich Befehl. »Wer Kent trifft, der hat das Recht und die Pflicht, ihn zu erschlagen!«
Da verliert der Herzog von Burgund jedes Interesse an Cordelia. »Also, wenn ich gewußt hätte …«, stammelt er. Er meint, wenn er gewußt hätte, daß es keine Mitgift gibt.
Der Herzog von Frankreich jedoch stellt sich neben Cordelia. »Ihr Herz ist ohne Lüge. Sie haßt die Schmeichler, wie ich sie hasse. Keine schönere Mitgift habe ich erwartet.«
»Nimm sie mir aus den Augen!« brüllt der Löwe.
Ja, wie ein Löwe ist der König in seinem Zorn. Alle Sicherungen sind durchgebrannt. Der Narr hat gerade noch seine Schelle schlagen können.
Bevor Cordelia zusammen mit dem Herzog von Frankreich das Land verläßt, bittet sie den treuen Kent: »Bleib bei ihm! Du kennst ihn und weißt, daß er ohne deinen Rat in großer Gefahr schwebt.«
Kent weiß den Namen dieser Gefahr: Goneril und Regan. »Ich werde in seiner Nähe sein«, verspricht er.
Kent und Cordelia kennen das Herz des Königs, und sie lieben ihn. Und diese Liebe ist stärker als der Zorn des Königs, und der Zorn kann ihr nichts antun.
Das Reich wird in zwei Teile geteilt. Lear wohnt ein halbes Jahr bei Regan, das andere halbe Jahr wohnt er bei Goneril. So soll es sein. So wird es vereinbart.
Was ist mit Gloster? Er hat keine Worte gefunden. Er hat Cordelia gesehen und hat gehört, was sie sagte, und es hat ihm im Herzen weh getan. Er ist verwirrt, und auf dem ganzen Weg vom Schloß nach Hause muß er den Kopf schütteln.
Gloster hat zwei Söhne, Edgar und Edmund. Edgar ist sein legitimer Sohn, Edmund der Sproß eines Seitensprungs. Gloster liebt sie beide, und er liebt sie beide gleich. Das sagt er. Das würde er jedem und immer sagen. Aber sein Herz weiß: Den Edmund liebt er ein wenig mehr. Obwohl der ja ein Bastard ist und eigentlich gar nicht richtig geliebt werden dürfte. Die Liebe ist ungerecht und mit Argumenten nicht zu überzeugen.
Als Gloster an diesem Tag nach Hause kommt, ist er von der Schlechtigkeit der Welt überwältigt. Er will seine Söhne sehen, um sich zu überzeugen, daß sie aus anderem Holz sind als diese Cordelia. Edgar befindet sich nicht in seinem Zimmer. Er sei ausgegangen, heißt es.
Aber Edmund ist da. Als Gloster sein Zimmer betritt, bemerkt er gerade noch, wie Edmund etwas in seinem Ärmel verschwinden läßt.
»Was war das eben?«
»Was meinst du, Vater?«
»Du hast etwas verschwinden lassen.«
»Es war nichts, nicht der Rede wert.«
»Ich will es sehen.«
»Du würdest es nicht richtig deuten, Vater.«
»Was soll das heißen? Ich befehle dir, mir zu zeigen, was du in den Ärmel gesteckt hast!«Ist das heute so, denkt Gloster, daß sich die Kinder gegen die Väter erheben? Ist Edmund, mein Edmund, einer wie diese Person, deren Namen auszusprechen der König verboten hat?
Edmund tritt nahe an seinen Vater heran. Er schaut seinem Vater frei in die Augen, er sieht dort Sorge und Verwirrung. »Was ist mit dir, Vater? Ich fürchte, es ist etwas Schreckliches passiert. Ich will nicht, daß dich dieser Brief noch
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