Shakespeares ruhelose Welt
Kuratorin des British Museum für die Renaissance-Sammlungen verantwortlich, hat den Luxus gütern aus Italien eine eigene Studie gewidmet:
Titelseite von The Merchant of Venice , Quartausgabe, London 1600.
«Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts haben die venezianischen Glasbläser einen wundervollen neuen Werkstoff entdeckt: das Cristallo. Man gab dem Glas diesen Namen, weil es so klar wie Bergkristall war. Anders als dieser jedoch ließ es sich in phantastische Formen pressen und blasen, zudem mit wunderschönen, leuchtend farbigen Emailmustern verzieren und auch vergolden. Die Herstellung des Cristallo war ein streng gehütetes Betriebsgeheimnis. Man brauchte dazu Pflanzenasche (Rohsoda) aus Syrien und bestimmte Arten Flusskiesel aus Norditalien. Das leuchtende Kobaltblau stammt wahrscheinlich aus dem Erzgebirge, dem Gebiet entlang der deutsch-tschechischen Grenze. Das Weiß wurde aus Zinnoxid hergestellt, der Rohstoff stammt vermutlich aus Cornwall oder der Bretagne. Und das üppig aufgetragene Gold für Randverzierung und Wappen kam wohl aus Afrika.»
Derart elegante und klare Glasprodukte, zu deren Herstellung ein ausgedehntes Netzwerk von Handelsverbindungen notwendig war, waren in ganz Europa gefragt. Nur die Reichen konnten sich venezianisches Glas mit seinen üppigen Golddekoren und den leuchtenden Farben leisten. Es waren im Wortsinn «königliche» Objekte. Als Shakespeares Richard II. die Krone sowie deren Privilegien und den Besitz, die mit ihr verbunden sind, ablehnt, stellt er klagend auch Glaskelche beiseite, die sehr an unseren erinnern:
«KÖNIG RICHARD: Ich gäbe mein Geschmeid’ um Betkorallen,
Den prächtigen Palast für eine Klause,
Die bunte Tracht für eines Bettlers Mantel,
Mein [reich geschmücktes Glas] für einen hölzern Becher …»
Antonios Handelsflotte reich beladener Schiffe, die nach London segelten, hatte gewiss auch venezianisches Glas geladen, dazu weitere Extravaganzen, wie sie die Phantasien des Publikums beflügelten. In ganz Europa bestand eine solche Nachfrage nach venezianischem Glas, dass die Glasmacher verlockt waren, auch im Ausland zu arbeiten – Gläser wie das hier vorgestellte könnten also auch außerhalb Venedigs produziert worden sein, in Deutschland, Frankreich oder England, von emigrierten venezianischen Glasmachern, die ihre Betriebsgeheimnisse mit sich nahmen. Was venezianischesGlas genannt und auch zu venezianischen Preisen verkauft wurde, war tatsächlich eine internationale Marke, nicht anders als eine «Must-have»-Handtasche heutzutage, die von Designern in Italien oder Frankreich erdacht, möglicherweise aber in Fernost produziert wurde.
Der Verzelini-Kelch, London 1586. Das elisabethanische London hatte seinen eigenen venezianischen Glasmeister, den Protestanten Jacopo Verzelini, den die Königin privilegiert hatte, in Aldgate eine Werkstatt zu eröffnen.
G. B. Arzenti, Stadtplan von Venedig , Ausschnitt, um 1600. Zu sehen sind Rialto-Brücke und Markusplatz. Das Rialto ist einer der wenigen realen Orte, die im Kaufmann von Venedig genannt werden.
Die Macht hinter der Marke saß im Epizentrum des Banken-, Makler- und Versicherungswesens im Venedig des sechzehnten Jahrhunderts: im Rialto, dem Geschäftsviertel der Stadt. Hier kamen Handel und Schifffahrt zusammen; hier liefen Nachrichten über Schiffe, Schiffbrüche und Verluste aus aller Welt ein. Darum hat Shylock die Nachricht unweigerlich gehört, dass Antonios englische Flotte bei den Goodwin Sands gescheitert war:
«SALARINO: Ja, noch wird es nicht widersprochen, daß dem Antonio ein Schiff von reicher Ladung in der Meerenge gestrandet ist. Die Goodwins, denke ich, nennen sie die Stelle: eine sehr gefährliche Sandbank, wo die Gerippe von manchem stattlichen Schiff begraben liegen, wenn Gevatterin Fama eine Frau von Wort ist.»
Luca Molà vom European University Institute in Florenz ist Experte für Wirtschaft und Recht im Venedig des sechzehnten Jahrhunderts:
«Ende des sechzehnten Jahrhunderts trafen sich im Rialto Kaufleute aus aller Welt: Türken, Perser, Juden, Armenier, Deutsche, Flamen und Engländer; die Schiffe kamen von so weit her wie Mexiko oder Indien, und alle brachten Nachrichten von den Märkten in aller Welt. Das komplexe System wurde von der Stadtregierung gut organisiert, wobei man auch Ideen nutzte, wie sie in der islamischen Welt ersonnen wurden: Zum Beispiel wurden die Kaufleute an Orten konzentriert, wo sie mit Maklern und Übersetzern verhandeln konnten; auch
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