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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Agenten in Ganggebracht werden sollte. Für Shakespeares Zuschauer waren das Nachrichten, die sie wieder und wieder gehört, wieder und wieder diskutiert hatten – die prägenden politischen Ereignisse ihrer Lebenszeit. In jedem Bolingbroke, in jedem Brutus sahen sie nicht nur eine historische Gestalt, über deren Motive man rätseln konnte, sondern einen Rebellen und Mörder der Art, der jederzeit die eigene Welt umstürzen könnte. Und im großen anonymen Schmelztiegel des Theaters mochte vielleicht einer dieser Agenten, einer dieser verdeckten Attentäter direkt neben dir stehen – vielleicht hatte er dir gerade Austern verkauft.

    Abraham Hogenberg, Stich aus: Gunpowder Plot und Guy-Hawkes-Verschwörung (Ausschnitt), Einblattdruck, Köln 1606.



Kapitel Zwölf
    «Sex and the City»
    Ein Kelchglas aus Venedig
    J ede Zeit hat ihre eigenen Traumvorstellungen von der Großen Stadt, wo Glanz und Vergnügen nicht nur zuhause sind, sondern auch leicht zu erreichen. Für die Elite des zwanzigsten Jahrhunderts war New York diese Stadt der Träume: reich und weltoffen, hedonistisch, mondän und atemberaubend. Traumstadt in Shakespeares Tagen war Venedig: Europas Handelsmetropole, die Heimat des wahren Luxus und Stils, eine der weltweit geschäftigsten Drehscheiben, der Ort, an dem Reisende und Händler, Kaufleute und Finanziers gierig verfolgten, wie venezianische Golddukaten – die Dollars dieser Zeit – in großen Mengen den Besitzer wechselten. All dieser Reichtum beruhte letztlich nur auf einem: der Handelsschifffahrt.
«SHYLOCK: Ei nein, nein, nein! – Wenn ich sage, er ist ein guter Mann, so meine ich damit, versteht mich, daß er vermögend ist. Aber seine Mittel stehen auf Hoffnung: er hat eine Galeone, die auf Tripolis geht, eine andre nach Indien. Ich höre ferner auf dem Rialto, daß er eine dritte zu Mexiko hat, eine vierte nach England – und so hat er noch andre Auslagen in der Fremde verstreut. Aber Schiffe sind nur Bretter, Matrosen sind nur Menschen; es gibt Landratten und Wasserratten, Wasserdiebe und Landdiebe – ich will sagen, Korsaren, und dann haben wir die Gefahr von Wind, Wellen und Klippen. – Der Mann ist bei alle dem vermögend – dreitausend Dukaten – ich denke, ich kann seine Bürgschaft annehmen.»
    Venedig, kosmopolitisch und multikulturell, war das Urbild einer großen Seehandelsstadt – ein Vorbild, dem London nicht mehr nur nachstrebte; es hatte bereits die Erfahrung gemacht, ernsthaft mithalten zu können. Mit Brillanz evoziert der Engländer Thomas Coryate in seinem Reiseführer die Anziehungskraft dieses Platzes:
«Wahrhaft stupend (um ein ungewöhnliches Epitheton für einen so ungewöhnlichen und einmaligen Platz wie diesen zu verwenden) ist ihr Ruhm, sodass sie, kaum dass ich sie betreten, meine Sinne nicht nur erstaunte, sondern wirklich hinriss. Denn dort ist Architektur von einer Pracht zu sehen, wie sie kein anderer Ort unter der Sonne hervorbringt. Man wird dort Mode und Bekleidung aller Arten sehen, alle Sprachen der Christenheit hören und daneben diejenigen, welche barbarische Völker sprechen.»
    Coryates Beschreibung der Stadt ist darauf angelegt, englische Leser zu erregen. Venedig ist, in seiner unvergesslichen Wortschöpfung, «stupend» (stupendious) : die Stadt ist reich, elegant, ergötzlich, eine mächtige und gefährliche Mischung vieler unterschiedlicher Völker. Mit seinen «barbarous Ethnickes» aus ganz Europa, aus Afrika und dem Orient ist Venedig auch Babylon, wo man nicht nur dem Gemurmel fremder Zungen begegnet, sondern auch eleganten Fremden, lockeren Sitten und den Möglichkeiten unendlichen Vergnügens.
    Ein Objekt, das alle diese Phantasien anspricht, ist dieses große, 400 Jahre alte Kelchglas. Der obere Teil liegt in der Hand wie ein Bierpint (das englische Halbliterglas), hat aber eine ganz andere Form. Die runde «kuppa» ist weit, kann also eine ordentliche Portion Wein fassen, und sie sitzt auf einem herzförmigen Stil mit rundem Fuß. Um den Rand läuft ein prächtiges Band aus Gold, das die Trinkenden bei jedem Schluck mit den Lippen berühren. Unter diesem Goldband steht eine blonde Frau in wogendem, blauem, mit riesigen Schneeflocken gemustertem Gewand. Sie scheint geneigt, es sich gutgehen zu lassen – und auch ihrerseits zu verwöhnen. Dieses Weinglas hätte jeden unter Shakespeares Zuschauern an Venedig denken lassen und an die raffinierten Vergnügungen, die diese Stadt, und nur diese, zu bieten hatte. Dora Thornton, als

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