Shakespeares ruhelose Welt
Zuschauer hätten ihre eigenen traurigen Geschichten von toten Königen erzählen können. In ganz Europa fielen Herrschende dem Dolch, der Kugel, dem Giftkelch zum Opfer. Erik XIV. von Schweden, der leidenschaftlich um Elisabeth warb, wurde 1577 vergiftet. Der protestantische Oranierprinz wurde 1585 in die Brust geschossen. Frankreich verlor so viele Könige an den Dolch, dass man an Leichtsinn glauben könnte: Heinrich III. erstochen im Jahr 1589, Heinrich IV. erstochen 1610. Und jeder hätte von Morden in England selbst erzählen können, vor allem von denen an zwei Königinnen: Anne Boleyn, Elisabeths Mutter, wurde von Heinrich VIII., Elisabeths Vater, 1536 aufs Schafott geschickt; und Jakobs Mutter Maria, Königin der Schotten, 1587 hingerichtet auf Befehl ihrer Cousine Elisabeth. In allen Fällen erfolgte das Töten nach längeren Berichten über Verrat und Verschwörung.
Wie werden die Nachrichten über die Verschwörungen zirkuliert sein, die Carleton beschrieben hat? Moira Goff, als Kuratorin der British Library zuständig für gedruckte historische Quellen, sagt uns, wie Carleton bei seiner Recherche verfuhr:
«Er wird sich sein Material aus unterschiedlichen Quellen geholt haben. Eine Menge davon stammt wohl vom Hörensagen, manches auch aus privilegierterem Mund. Auch aus gedruckten Flugschriften kamen seine Nachrichten, aus handschriftlichen Rundbriefen, an deren Stelle später gedruckte Zeitungen traten, die damals im Entstehen waren. Aus ähnlichen Quellen bezogen auch Shakespeares Zuschauer ihr Wissen. Die unten im Parterre waren eher auf das angewiesen, was sie irgendwo aufschnappten – Haben Sie schon das Neueste gehört ? Menschen weiter oben in der sozialen Hierarchie haben solche Rundschreiben vielleicht regelmäßig bezogen. Für Geschäftsleute waren Nachrichten unentbehrliche Grundlage ihrer Tätigkeit.»
Jeder, der in den 1590er Jahren Gerüchte aufschnappte oder Flugschriften las – Zirkulare, wie sie Carleton später sammelte –, hätte in Richards II. Liste ermordeter Könige keine lange vergangene Geschichte, um die 200 Jahre alt, vernommen, sondern etwas, was dem aktuellen Geschehen beklemmend nahe war.
Einem modernen Blick mögen Carletons reißerisch aufgemachte Schreckenstableaux leicht absurd vorkommen. Lassen wir den Theaterdonner aber beiseite, wird seine Sammlung zur bestürzenden Lektüre, denn Elisabeth und Jakob waren tatsächlich häufig, manche würden sagen fortwährend, Ziel von Attentaten. Und wäre die Königin ermordet worden, es hätte für alle im Land schwere Folgen gehabt. Wenn wir Carletons Remembrance lesen, sehen wir, dass es durchaus Grund gab, sich zu fürchten.
Das Buch wird aufgelockert durch Illustrationen, durch zweiundzwanzig schrecklich schlechte, grobe Holzschnitte. Wir können William Parry sehen, wie er, vor Furcht erstarrt, sich plötzlich außerstande sieht, seinen Mordversuch an der ebenfalls fürchterlich anzusehenden Königin zu vollenden. Da sind die Babington-Verschwörer, die mit Königin Maria von Schottland gegen Elisabeth konspirieren, unbekümmert um die grauenhafte Hinrichtung, die hinter ihnen stattfindet – das Schicksal, das sie bald selbst ereilen wird. Systematisch unterstreichen die Bilder die Botschaft des Textes: Katholische Verräter sind überall, und sie verschwören sich, uns zu vernichten.
Die spektakulärste Verschwörung der 1590er Jahre war das Lopez-Komplott, dem Carleton besondere Bedeutung beimisst. Sieht man, welche Mixtur aus politischer Intrige, antispanischer Paranoia, Hofklatsch und Fremdenfeindlichkeit hinter dem Untergang von Roderigo Lopez steht, erkennt man auch, welch ungeheure Macht die Verschwörungsangst im elisabethanischen England bekommen hatte. Lopez war ein portugiesischer Immigrant in zweiter Generation, der Sohn eines zwangsgetauften Juden. Er war ein wohlhabender und erfolgreicher Arzt, diente der Königin wie auch dem Earl of Essex, einem von Elisabeths Favoriten (siehe Kapitel Sieben). Seit etwa 1590 stand Lopez in informellem Kontakt mit dem spanischen Botschafter in Frankreich; er wollte wohl Friedensverhandlungen zwischen England und Spanien anbahnen. Offenbar aber hat er seine Befugnisse weit überschritten, zudem Essex’ Zorn auf sich gezogen: Er hatte über dessen Gesundheit und politische Zukunft herumgetratscht. Ein schwerer Fehler: Als der erboste Essex hinter Lopez’ nicht autorisierte Kontakte kam, behauptete er, nach seinen Quellen sei Lopez in einen «äußerst
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