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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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mit Privilegien wurden sie ausgestattet, sie genossen religiöse und politische Freiheiten. In Padua etwa, wo die Venezianer ihre Universität unterhielten, konnten sich ohne Probleme auch lutheranische Studenten einschreiben. Und es lebte zu dieser Zeit eine osmanische Gemeinde im Rialto. Offiziell nahm man nicht zur Kenntnis, dass diese Bewohner praktizierende Muslime waren, doch überließ man ihnen 1621 einen Speicher, in dessen Inneren sie sich eine Moschee einrichten durften. Und es gab mehrere Synagogen im Ghetto; wohl vier waren zwischen dem sechzehnten und dem siebzehnten Jahrhundert öffentlich zugänglich.»
    Shakespeares London war zu dieser Zeit schon viel kosmopolitischer, als es je zuvor gewesen war, mit Venedig allerdings noch nicht zu vergleichen. Einer der Unterschiede zwischen den beiden Städten war, dass es in London keine Synagogen gab, keine sichtbare jüdische Gemeinde. Die Juden waren 300 Jahre zuvor aus England vertrieben worden, darum hatte praktisch keiner der Londoner, die ins Theater kamen, um den Kaufmann von Venedig zu sehen, jemals einen praktizierenden Juden mit eigenen Augen gesehen. In Venedig dagegen war ein ganzes Viertel den Juden vorbehalten. Im Prinzip waren die Juden auf das Ghetto beschränkt, theoretisch wurden sie dort jede Nacht eingeschlossen, in Wirklichkeit aber waren sie viel freier, und Venedigs Ruf als tolerant regierte Stadt (insbesondere mit Blick auf Menschen anderen Glaubens) war wohl verdient. Auf diese Reputation bezieht sich Shakespeare. Shylock beschwert sich beispielsweise, Zielscheibe von Antonios anti-jüdischen Schmähungen zu sein, als sie sich jedoch vor Gericht trafen, standen beide dort mit gleichen Rechten, wie Antonio selbst erklärt:

    Die Levantinische Synagoge, Ghetto in Venedig, gegründet 1538.
«ANTONIO: Der Doge kann des Rechtes Lauf nicht hemmen.
Denn [der Nutzen, den die Fremden finden]
Hier in Venedig, wenn man ihn versagt,
Setzt die Gerechtigkeit des Staats herab,
doch der Gewinn und Handel dieser Stadt
Beruht auf allen Völkern.»
    Es war eine Stadt, die ihre Immigranten gut und gerecht behandelte; der Wohlstand der Stadt, das war anerkannt, beruhte darauf, dass eine Menge Fremder glücklich zusammenlebten. Und um dies zu sichern, garantierte Venedig allen gleiche Behandlung nach dem Gesetz – eine wesentliche Bedingung für erfolgreichen und ungestörten Handel; später sollte dies in London nicht anders sein. Die Regierungsform des Stadtstaates Venedig wurde als vorbildlich betrachtet und hochgeschätzt.
    Der große englische Dichter Edmund Spenser pries Venedig als Nachfolgerin von Babylon und Rom, diesen überlegen in seinen Gesetzen und seinem Rechtswesen:
«Vollkomm’nes Venedig, Blüte alter Welten Wonnen;
Und diesen nah durch Schönheit, die es anzieht,
Doch weit voraus durch Klugheit seines Rechts.»

    Betrachtet man die andere Seite des Kelchglases, sieht man ein wild wucherndes Wappen in Rot, Blau und Gold, darüber einen kecken, sehr venezianischen Löwen, der seine lange rote Zunge herausstreckt. Doch es handelt sich nicht um ein venezianisches Wappen. Es ist ziemlich sicher deutsch, und das Glas gehört vermutlich zu einem Set, das in Venedig speziell für den sehr großen deutschen Markt produziert wurde. Wenn wir das Wappen auf einem solchen Glas betrachten, sollte es uns nicht verwundern, dass eine der wenigen Erwähnungen eines Trinkglases, die bei Shakespeare überhaupt auftauchen, einem deutschen Glas gilt – und dass dies im Kaufmann von Venedig geschieht. Wenn die Freier um die Hand der reichen Erbin Porzia wetteifern, wird der unwillkommene deutsche Kandidat, wie anders, als schwerer Trinker karikiert. Porzia, die befürchtet, mit einem Schwamm verheiratet zu werden, plant, ihn in die Irre zu führen, indem sie auf das falsche Kästchen «[ein tiefes Glas] Rheinwein» stellen lässt. Wir können ziemlich sicher sein, dass sie den Wein in einem Glas ähnlich dem unseren servieren lässt.
    Interessant ist auch, dass Shakespeare Venedig noch toleranter zeigt, als es tatsächlich war, als Ort nämlich, an dem sich Christen und Juden auf eineWeise mischen können, die anderswo im damaligen Europa unvorstellbar war. Venedig ist für Shakespeare und sein Publikum nicht nur eine reiche italienische Stadt, es ist ein Labor neuer gesellschaftlicher Möglichkeiten, die sich im zeitgenössischen London allenfalls erahnen ließen. Venedig wird zum Ort ganz nach der Imagination des Publikums – reich und kosmopolitisch,

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